Militarisierung und Abschottung
Von Matthias István KöhlerEs ist bereits einige Jahre her, dass die letzte jW-Beilage erschien, die sich mit Fragen rund um Migration beschäftigte. Das war 2016: Die sogenannte Flüchtlingskrise war in aller Munde. Hunderttausende hatten sich im Jahr zuvor insbesondere aus Syrien, aber auch aus Afghanistan oder dem Irak – Ländern, die der Westen mit seinen Kriegen und Sanktionen in Trümmerhaufen verwandelt und in unglaubliches Elend gestürzt hatte – auf den Weg in die EU und eben auch die BRD gemacht. »Solange Zehntausende Migranten im Atlantischen Ozean oder im Mittelmeer ertranken, war von Krise keine Rede«, schrieb der Kollege Arnold Schölzel damals.
Die Diskussion über »Willkommenskultur« ging seinerzeit nahtlos in die über »islamistische Gefährder« über. Ein rassistischer Wahn begann um sich zu greifen, die Zahl der Angriffe auf Asylunterkünfte nahm erheblich zu – und es wurde gemordet. 2019 erschoss der Neonazi Stephan Ernst den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) wegen dessen Haltung in der Flüchtlingspolitik. In Hanau starben bei einem rassistischen Anschlag 2020 neun Menschen, Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Vili Viorel Paun, Kaloyan Velkov, Fatih Saracoglu, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtovic. Von den Vertretern dieses Staates gab es ritualisiert warme Worte. Die Aufklärung über die Hintergründe wird jedoch bis heute in beiden Fällen behindert, die Verstrickung der Behörden vertuscht.
Menschlicher geht es in dieser Weltgegend also seit Veröffentlichung der letzten Beilage nicht zu. Im Gegenteil: Die EU hat im Gefolge der USA ihren Kurs globaler Konfrontation zur Wahrung imperialer Dominanz verschärft. Das schlägt sich im Umgang mit Geflüchteten nieder. Abschottung und Drangsalierung von Schutzsuchenden: Das EU-Grenzregime »funktioniert«.
Hansgeorg Hermann berichtet über die Situation von Asylsuchenden in den Lagern auf den griechischen Inseln und wie aus Menschen, die vor Krieg und Hunger fliehen, Verbrecher gemacht werden. Militarisierung und Überwachung: Die EU-»Grenzschutzagentur« ist Krisengewinnerin. Matthias Monroy schreibt in seinem Beitrag über den Aufstieg von Frontex. Und was hat es eigentlich mit der »Bekämpfung von Fluchtursachen« auf sich? Ina Sembdner wirft in einer Buchrezension einen Blick auf die Maßnahmen der EU in ihrer »Zusammenarbeit« mit den Staaten Afrikas. Wie diese das aus der Kolonialzeit stammende Machtverhältnis reproduzieren, ist Thema ihres Artikels.
Der globale Norden zerstört mit seiner Art, Reichtum zu schaffen, diesen Planeten. Unterschiedliche Bewegungen haben dies in den vergangenen Jahren einer breiten Öffentlichkeit ins Bewusstsein gerufen. In den kommenden Jahrzehnten werden laut verschiedenen Prognosen Hunderte Millionen Menschen in Afrika und Asien gezwungen sein zu fliehen, weil der menschengemachte Klimawandel ihnen ihre Lebensgrundlage raubt. Jakob Reimann stellt Klimaflüchtlinge in den Mittelpunkt seines Artikels.
Dabei gehören Migration und Kapitalismus zusammen. Über dieses Verhältnis haben sich schon Klassiker wie Karl Marx, Rosa Luxemburg und Wladimir Iljitsch Lenin den Kopf zerbrochen. Daniel Bratanovic geht noch einmal zurück an die historischen Anfänge der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise, analysiert die Mechanismen der »Proletarisierungsmaschine« – und zeigt, wie sie bis in die Gegenwart wirken.
Die Bilder dieser Beilage wurden 2021 an der Grenze zwischen Mexiko und den USA gemacht. Sie zeigen Flüchtlinge, die versuchen, bei Nacht über den Fluss Río Grande in den Bundesstaat Texas zu gelangen.
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