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Aus: Behindertenpolitik, Beilage der jW vom 10.04.2024
Beilage Behindertenpolitik

Punch mit Parkinson

Dilar Kisikyol trainiert an »Schüttellähmung« erkrankte Frauen. Eigens dafür hat die Boxweltmeisterin ein Projekt: »Du kämpfst«
Von Oliver Rast
Handicap zum Trotz: Partnerübung samt Schlagabtausch von Parkinsonpatientinnen beim Kurs von Projektleiterin Dilar Kisikyol
Volltreffer, rechte Gerade: Dilar Kisikyol wird am 5. November 2022 in Hamburg Weltmeisterin bei den Profis im Leichtgewicht
»Und jetzt los, weil das Ende der Welt darf nicht tragisch sein!«
Bereit und in Kampfstellung – Ziel im Visier, linke Führhand voraus: Dilar Kisikyol

Der Schreck ist ihr kurz in die Knie gefahren: »Auweia, so geht das nicht.« Anlage einschalten, Musik einlegen, Bässe hochdrehen – alle um den Ring flitzen lassen. »So überhaupt nicht«, sagt Dilar Kisikyol und schmunzelt dabei; hörbar durch den Hörer beim Plausch mit dem Autor. Weil: Sie musste umdenken, ganz praktisch. Die Teilnehmerinnen der illustren Runde, die Runden zum Warm-up drehen sollten, haben ein Handicap: Parkinson.

Die »Schüttellähmung« ist die zweithäufigste neurodegenerative Erkrankung, gleich hinter Alzheimer. 200.000 Personen sind hierzulande an Parkinson erkrankt. Mindestens, Tendenz steigend. Vieles kommt zusammen, graduell unterschiedlich. Verlangsamte Motorik, abgehakte Bewegungen. Zitternde Hände, zuckende Beine. Versteifte Muskeln, verkrampfter Leib. Eine Symptomatik des Absterbens von Hirnzellen im Hirnstamm, verursacht durch die mangelnde Zufuhr von Dopamin. Kurz, ein Körper aus der Balance, ein Körper außer Kontrolle. Das Dramatische: Parkinson ist unheilbar. Das hat auch Kisik­yol gelernt.

Mut machen, sichtbar werden

Die 32jährige trainiert sonst für Titelkämpfe, nationale, internationale. Erst als olympische Boxerin, seit 2019 als Profiathletin. Den Weltmeistergürtel nach Version der Women’s International Boxing Federation (WIBF) hat die gebürtige Leverkusenerin mit kurdischen Wurzeln im November 2022 errungen, im Leichtgewicht (bis 61 Kilogramm). Und erst kürzlich erfolgreich verteidigt. Einstimmig nach Punkten.

Kisikyol ist ferner im Hamburger Boxverband engagiert, dort Beauftragte für Frauen und Inklusion. Ihr Interesse an Parkinsonerkrankten kam so: Während der Hospitanz in einem Rehazentrum beo­bachtet sie einen Therapeuten, der mit an Parkinson erkrankten Frauen Bewegungsabläufe übt. »Faszinierend«, erinnert sich Kisikyol. Verbandsvertreter und sie hatten eine Idee: Warum nicht einen Kurs anbieten, Parkinsonboxen? Gefragt, getan. Eigens dafür hat Kisikyol ein Projekt gegründet: »Du kämpfst«.

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Das Label klingt charakteristisch, gab es Anlaufschwierigkeiten?

Nein, überhaupt nicht. Die interessierten Frauen haben sich sofort mit dem Kurs identifiziert, mit ihrem.

Woran haben Sie das gemerkt?

Beispielsweise hat eine Teilnehmerin ein Logo für uns gefertigt. Da war der Kurs noch gar nicht offiziell. Wenig später haben wir eine Whats-App-Gruppe eingerichtet namens ›KO Parkinson‹.

Warum eine Boxgruppe speziell für Frauen, die an Parkinson erkrankt sind?

Boxen ist männerdominiert. Auch heute noch. Mädchen, Frauen sind zu oft nicht sichtbar, Menschen mit Einschränkungen sowieso nicht. Ich will ihnen Mut machen, Selbstvertrauen geben, anders ausgedrückt: Female Empowerment.

*

Knapp zweieinhalb Jahre ist das jetzt her. Die jüngste Teilnehmerin ist 45 Jahre, die älteste 82. Mal sind sie zu zehnt, mal zu sechst; sie waren auch schon mal zwölf im Kurs.

Durchkämpfen, durchboxen

Ein stabiler Kern also. Nicht nur das, alle gingen sehr behutsam miteinander um, »einfach sehr liebevoll«, so ­Kisikyol. Die boxsportbegeisterte Schar trifft sich immer mittwochs, von 12 bis 13 Uhr in der Boxhalle des Verbands in Alsterdorf im Nordwesten der Hansestadt. Das Angebot ist niedrigschwellig, keine Vereinsmitgliedschaft, kein Mitgliedsbeitrag. Das findet Kisikyol wichtig, den Zugang zum Sport so leicht wie möglich machen.

Apropos leicht. Die passionierte ­Fighterin ist dreierlei – und das gleich doppelt. Gymnastiklehrerin, Sozialpädagogin und eben professionelle Faustkämpferin. Mehr noch, ein Frühchen von Drillingen. Dilar, das »Feuerherz«, wog 1.500 Gramm bei der Geburt. »Ich musste mich von Beginn an durchkämpfen, durchboxen«, erzählt sie. Das sei ihr sprichwörtlich in die Wiege gelegt.

Aber: Auch Kisikyol war als junger Mensch schüchtern, beinahe scheu. Anfangs sollte Dilar etwas Musisches lernen, Klavierspielen etwa. Das hätte ihre Mutter gerne gesehen. Nur, Dilars Begabung, die 52 elfenbeinweißen Tasten – die Untertasten – und die 36 pechschwarze Tasten – die Obertasten – zu bedienen, war nicht sehr ausgeprägt. Davon konnte sie Lehrerin und Elternhaus gleichermaßen überzeugen. Sie spielt halt lieber die Klaviatur des Faustkampfs, im Seilquadrat, nach allen Regeln der Kunst.

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Ihre Boxlaufbahn wirkt gradlinig, immer steil nach oben. Ist das so, alles ohne Brüche?

Nicht nur, mich hat eine Finalniederlage bei den deutschen Amateurmeisterschaften zurückgeworfen. Ich war traurig, musste überlegen, was nun.

Umgehauen hat Sie das offenbar nicht?

Nein. Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich anderswo eine andere. Ich bin von Leverkusen nach Hamburg gezogen, habe den Schritt vom olympischen zum professionellen Boxen gemacht.

Ein riskanter, oder? Weil viele Profineulinge bleiben sportlich im Mittelmaß, wenn überhaupt …

Ob das so ist, hat viel mit Vertrauen zu tun. Vertrau’ dir, vertrau’ dem, was du tust.

Das reicht?

Hartnäckig bleiben gehört natürlich dazu. Immer wieder neu anlaufen, trotz Widerständen.

Das mag ein Erfolgsrezept sein …

Sicher, aber klar, du brauchst auch diese Glücksmomente, die richtigen Menschen zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu treffen.

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Nur so hätten sich die Wege von Kisikyol und ihrer Parkinsongruppe kreuzen können, konnten sie zusammenfinden.

Überfordern, unterfordern

Logisch, das Pensum für die Clinchfreudigen aus der Mittwochsrunde muss individuell angepasst werden. Kisikyols Credo: »Nicht überfordern, nicht unterfordern«. Übungen eher aus dem Stand, eher spielerisch, sagt sie. Die Trainingsstunde beginnt mit einer Art Ritual. »Wir stellen uns ­alle an der blauen Linie des Hallenbodens auf.« So, als ob der erste Gong ertönen würde. Los geht’s – mit Gymnastik, den Körper langsam auf Temperatur bringen. Dann Schattenboxen, Führhand, Schlaghand; auch aufeinanderfolgend: »Jepp, Jepp und Punch«. Dazu Partnerübungen, links-rechts-Kombinationen, die Schultern des Gegenübers touchieren. Und ab an den Boxsack, die geübten Schlagfolgen verfeinern.

»Behindert« oder »schwerbehindert«; Zuschreibungen, die Parkinsonerkrankte oft ablehnen. Das weiß auch Kisikyol aus ihrer Trainingsgruppe. Dennoch, als schwerbehindert nach dem Schwerbehindertengesetz gilt, wer einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 Prozent aufwärts attestiert bekommt. Etwa wenn bei Patientinnen und Patienten mit Parkinson Bewegungen erheblich gestört sind und Drehungen um die eigene Achse den Körper aus dem Lot bringen.

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Was passiert nach dem Training, was ist der Effekt für die Teilnehmerinnen?

Sie fühlen sich besser, bestenfalls verlangsamen sich bei Trainingskontinuität die Symptome der Erkrankung.

Und es ist eine andere Alltagserfahrung für Ihre Schützlinge …

Absolut. Mir geht es darum, Isolation aufzubrechen, sozial zu interagieren.

Wie soll es mit Ihrem Projekt weitergehen?

Ich muss regelmäßig austarieren, für was ich wann Zeit aufbringen kann. In den vergangenen Monaten musste ich mich stärker auf meinen Titelkampf konzentrieren.

Aber Sie machen weiter?

Keine Frage. Ich kann mir vorstellen, künftig Therapeutinnen und Therapeuten auszubilden, für lizenziertes Parkinson­boxen. Und vielleicht wird ›Du kämpfst‹ ein bundesweites Kursprojekt.

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Ein Schreck à la »Auweia, so geht das nicht« fährt Kisikyol schon lange nicht mehr in die Knie. Ihr Trainingsprogramm ist erprobt, durchgetaktet. Das Kampfziel definiert: »Knockout Parkinson«, den eigenen Körper zurückgewinnen – für ein paar Momente: siegen.

Dilar Kisikyol, das »Feuer­herz«, ist 1992 in Leverkusen als Drilling zur Welt gekommen. Erst mit 16 Jahren begann sie mit dem Boxen. Erfolgreich. Die Profiweltmeisterin hat eine makellose Bilanz: zehn Kämpfe, zehn Siege, zwei durch Knockout. Und nebenbei unterrichtet sie gehandicapte Frauen.

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