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Aus: Dokumentation: »Wir klagen an«, Beilage der jW vom 08.05.2024
Palästina-Kongress

»Ist Deutschland mitschuldig an einem Völkermord in Gaza?«

Die Debatte, ob es sich in Gaza um einen Genozid handelt, lenkt von der Frage ab, wie ein solcher verhindert werden kann
Von Noura Erakat
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Demonstration für ein Ende deutscher Waffenlieferungen an Israel (Berlin, 20.4.2024)

Vielen Dank an alle Teilnehmer und Organisatoren dieser Konferenz, die großartige Arbeit leisten – vor allem im Hinblick auf die Einschüchterung der palästinasolidarischen Bewegung. Ich fühle mich geehrt, unter Ihnen zu sein.

Was die Frage des Völkermords betrifft, möchte ich im folgenden einiges klarstellen: »Genozid« wurde 1948 mit einem Rechtsvertrag – der sogenannten Völkermordkonvention – verboten. Dieser stellt fest, dass der Vorsatz zum Völkermord aus zwei Teilen besteht: dem spezifischen, ein Volk aufgrund seiner Rasse, Ethnie, Nation oder Religion ganz oder teilweise zu vernichten, und den jeweiligen Handlungen, die diesen Vorsatz erfüllen sollen. Hierzu gehören Massentötungen, die Schaffung von Bedingungen, die zur Zerstörung eines Volkes im Ganzen oder in Teilen führen sowie die Verhinderung von Geburten und die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit und der Würde. All diese Dinge ergeben zusammen, was man allgemein mit »Völkermord« bezeichnet.

In bezug auf die Konvention von 1948 sollte man sich den Zeitpunkt vor Augen führen, als sie geschrieben wurde. Sie beschreibt ein Phänomen, das jeder Gruppe von Menschen passieren kann. Aber der Text wird vor allem mit dem Völkermord der Nazis an den europäischen Juden assoziiert. Dieses historische Ereignis hat den Völkermord als Verbrechen in einer Weise kanonisiert, die ihn eher zu einer Abweichung von als zu einem Merkmal der europäischen Kolonialkriege machte.

Das hat dazu geführt, dass Europa in gewisser Weise von einem Großteil der begangenen Verbrechen auf der ganzen Welt entlastet und freigesprochen wird. Das umfasst unter anderem den transatlantischen Sklavenhandel und den Völkermord an indigenen Völkern in den Siedlerkolonien – von den USA über Kanada bis Neuseeland und Australien – sowie die Völkermorde im Nahen und Mittleren Osten. Diese Kritik haben viele post- und antikoloniale Denker vorgebracht. Der aus Martinique stammende Autor Aimé Césaire stellte einst heraus, dass Adolf Hitler den Völkermord als besondere Art der Gewalt gelernt und später perfektioniert hat, indem er dieses Verbrechen in den deutschen und anderen europäischen Kolonien studierte.

Durch das Verbrechen des Völkermords soll der Siedlerzivilisation ihre neue Identität geschmiedet und Reichtum angehäuft werden. Césaire bezeichnet das als »Boomerang Effect«. Der Völkermord wurde nicht innerhalb von Europa, sondern in der kolonialen Peripherie geboren. Er richtete sich zunächst gegen braune und schwarze Menschen, wird aber nicht als Verbrechen angesehen. Das geschieht erst, wenn er innerhalb Europas stattfindet.

Angesichts der Tatsache, dass im vergangenen halben Jahr allein 14.000 palästinensische Kinder getötet wurden, könnte diese Tatsache momentan nicht anschaulicher sein. Über diese toten Kinder gibt es keine moralische Empörung. Dazu braucht es erst die Tötung von sieben humanitären Mitarbeitern ausländischer Nationen durch die israelische Armee. Ganz so, als ob all die Angriffe, das Filmmaterial, die Zeugenaussagen nicht ausreichen würden, um zu beweisen, dass Israel Palästinenser als solche ins Visier nimmt. Die Gewalt wird erst zum Problem, wenn sie sich gegen Personen außerhalb des globalen Südens richtet. Das sollte man, auch im Hinblick auf die Grenzen der Völkermordkonvention, im Hinterkopf behalten.

Daneben gibt es im europäischen Bewusstsein noch ein zweites Problem. Anstatt Völkermorde nach den in der Konvention dargelegten Punkten zu charakterisieren, muss ein Völkermord in gewisser Weise analog zum Genozid der Nazis sein, um als solcher wahrgenommen zu werden. Das ist grundfalsch und eine fehlerhafte Form juristischer Logik. Viele Leute haben aggressiv behauptet, dass es sich im Gazastreifen nicht um einen Völkermord handeln könne, weil »nicht genügend Menschen getötet worden seien«. Nun, 35.000 getötete Palästinenser in sechs Monaten, der gesamte Gazastreifen zerstört, nur eine einzige noch stehende Stadt, verhungernde Menschen, eine überwältigende Anzahl von Menschen, die nicht einmal Toiletten benutzen können, was aufgrund mangelnder Hygiene zu vermeidbaren Krankheiten führt – all diese Bedingungen sind eindeutig geschaffen worden, um ein Volk ganz oder teilweise zu vernichten; in diesem Fall »teilweise«, da die Palästinenser in Gaza Teil eines größeren palästinensischen Volkes sind.

Und doch wird behauptet: »35.000 sind nichts im Vergleich zu den sechs Millionen Juden.« Das ist eine Beleidigung, juristisch inakkurat und widerspricht der Rechtsprechung. Nach dem Genozid in Ruanda 1994 wurde festgehalten, dass die Schaffung von Bedingungen, die zur Vernichtung eines Volkes führen, dem Tatbestand des Völkermords gleichkommt. Außerdem ist auch die Aufstachelung zum Völkermord ein Verstoß gegen die Konvention. Die Völkermordkonvention ist auch nicht dazu gedacht, das Verbrechen des Genozids zu bestrafen. Sie ist dazu gedacht, Völkermord zu verhindern. Selbst wenn also »noch nicht genug Menschen« getötet wurden, ist die Idee nicht, zu warten, bis wir »die richtige Zahl« erreichen, sondern: eine noch höhere Zahl zu verhindern! Alles andere verfehlt den Sinn und die Verpflichtungen dieses Vertrags.

Der dritte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist, dass die Konvention buchstäblich im Schatten der palästinensischen Nakba (»Katastrophe« der Palästinenser im Zuge der israelischen Staatsgründung, jW) verabschiedet wurde und diese in einer Weise normalisiert, dass dieses ursprüngliche Verbrechen in Palästina als Völkermord anerkannt werden kann – letztlich verhindert sie diese Anerkennung sogar explizit. Erstens, weil die Palästinenser, denen ihre Selbstbestimmung genommen wurde, die Völkermordkonvention nicht unterzeichnen können. Und zweitens, weil genau das Land und die paramilitärischen Kräfte, die der Gründung dieses Landes vorausgingen, das zur Rechenschaft gezogen werden sollte, als »westliche Wiedergutmachung« für den Völkermord an den europäischen Juden angesehen wird und daher unmöglich als das erste im Sinne der Konvention angeklagte Land akzeptiert werden kann.

Wir wussten bereits in der ersten Woche nach dem 7. Oktober, was folgen würde. Allein in dieser ersten Woche wurden 6.000 Bomben über dem Gazastreifen abgeworfen. Joaw Gallant (Verteidigungsminister, jW) und Isaac Herzog (Staatspräsident, jW) haben ihre Absichten offen mitgeteilt. Alle Zitate, die von der südafrikanischen Rechtsabteilung in der Völkermordklage vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) angeführt wurden, stammen aus eben jener Woche. Die südafrikanischen Vertreter zeigten eine Karte, auf der die Intention zu erkennen war, 1,1 Millionen Palästinenser aus dem Norden des Gazastreifens in den Süden zu transferieren. Aufgrund unserer Unfähigkeit zu erkennen, was dort vor sich geht, sind nun sechs Monate vergangen, ohne dass sich etwas geändert hat. Monate nach der IGH-Entscheidung werden wir immer noch durch diese Völkermorddiskussionen abgelenkt. Als ob die israelische Offensive – wie man uns weismachen will – in irgendeiner Weise »legitim« sei.

Schande über uns alle. Wir sollten uns schämen, nicht zu erkennen, dass das, was den Palästinensern widerfährt, ein Völkermord ist. Dass wir nicht in der Lage sind, ihnen zu helfen. Aufgrund des antipalästinensischen Rassismus, der dieses Leid »erträglich« zu machen scheint. Wir alle sollten uns schämen, dass wir auch nur daran denken, diese Formen der Kriegführung – die, offen gesagt, dem Zweiten Weltkrieg vorausginge und ihn kennzeichneten; gegen die nicht nur die Völkermordkonvention, sondern auch das Kriegsvölkerrecht erlassen wurde – als »rechtfertigbar« zu erachten. Und jetzt soll kein einziges dieser Gesetze anwendbar sein?

Es gibt Mitglieder des US-Kongresses, die meinen, dies alles sei noch nicht genug! Es gibt solche, die eine Atombombe auf ein wehrloses Volk abwerfen wollen, das nicht einmal einen Flughafen hat, oder irgendeine andere Möglichkeit, erneut zu flüchten. All das, um zu »lösen«, was für den globalen Norden schlicht als »Problem« gesehen wird: unsere Existenz. Hier geht es also nicht um Recht. Es handelt sich um das fortbestehende koloniale Erbe, das uns weiterhin prägt, und um einen tief verwurzelten Rassismus, der nicht überwunden wurde.

Die Debatte, ob es sich um einen Völkermord handelt, ist in erster Linie zu einer Ablenkung geworden. Wir sollten endlich damit aufhören. Denn wenn man es nicht Völkermord nennen will, dann muss man es eben anders nennen. Auch wenn man es lediglich »Krieg« nennen möchte: Man muss zumindest erkennen, dass diese Kriegführung, zu der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit gehören, schlicht inakzeptabel ist. Selbst wenn man den Palästinensern sogar die Schuld an ihrem eigenen Tod geben wollte: An irgendeinem Punkt muss man einsehen, dass die israelische Armee entweder unfähig oder unethisch ist und zurückgepfiffen werden muss. Doch sollte man noch nicht einmal in der Lage sein, das einzusehen, dann muss man sich dieses Volkes doch zumindest erbarmen.

Die eigentliche Frage ist nicht, wie das, was dort geschieht, genannt werden sollte, sondern ob wir zulassen können, dass es weitergeht. Selbst wenn man auf den Völkermordvorwurf verzichtet, muss die israelische Armee dazu gezwungen werden, aufzuhören! Es handelt sich um eine unfähige Armee, die nicht einmal vernünftige Tik-Tok-Videos drehen kann. Diesen Soldaten erlaubt man, sich mit geplünderter Frauenunterwäsche zu verkleiden, Moscheen als »Geburtstags- und Verlobungsgeschenke« in die Luft zu jagen, wie selbstverständlich zu foltern, mit Bulldozern Leichen aufzusammeln, während Lieder gesummt werden, und auf Kinder zu schießen, als wären sie Vögel. Für wen ist das nicht erschreckend? Was spielt es für eine Rolle, welchen Namen man diesen Verbrechen gibt?

Aber die IGH-Entscheidung hat einen Effekt. Wenn Juristen nicht ausreichen, wenn Sonderberichterstatter nicht ausreichen, wenn Experten nicht ausreichen, wenn Völkermordforscher nicht ausreichen, wenn die Palästinenser selbst nicht ausreichen, dann sollte doch der IGH ausreichen, der sowohl die Plausibilität des Schutzes der Palästinenser vor Völkermord als auch die Plausibilität der Klage Südafrikas feststellte. Das Ziel der Völkermordkonvention ist, wie oben bereits angemerkt, einen Völkermord zu verhindern – und nicht: das Verbrechen des Genozids nachträglich zu bestrafen. Die Länder, die ein solches Verbrechen unterstützen, müssen dazu gebracht werden, sich an die Konvention zu halten. Das hat zum Teil funktioniert. Mehrere Staaten haben Waffenlieferungen ausgesetzt, ihre diplomatischen Beziehungen beendet und Folgeklagen eingereicht. Die Entscheidung des IGH unterstützt also Menschen, sich für den Waffenstillstand einzusetzen, den wir brauchen. Südafrika hat das höchste Gericht der Welt dazu gebracht festzustellen, dass es sich hier nicht bloß um eine »Diskussion« handelt. Es gibt genügend Hinweise, die darauf hindeuten, dass es sich um Völkermord handelt. Also muss er verhindert werden!

Die Entscheidung des IGH hat noch eine zweite Folge: Sie trägt dazu bei, den sich ausweitenden Bruch zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden zu kristallisieren. Das war anschaulich, als Deutschland die Rechtsprechung des IGH und seine Feststellungen ablehnte. Ein inzwischen verstorbener namibischer Präsident erklärte einmal, dass Deutschland nicht in der Lage ist, festzustellen, was einen Völkermord darstellt und was nicht, wenn es noch nicht einmal denjenigen an den Herero und Nama zwischen 1904 und 1908 gesühnt hat. Früher wie heute sind Deutschland und andere ehemalige Kolonialmächte, die völkermörderische Kriege gegen schwarze und braune Menschen geführt haben, ungeeignet festzustellen, was moralisch, gerecht, oder ethisch ist. Das alles hat der von Südafrika angestoßene Fall in den Vordergrund gerückt.

Die Kontextualisierung des laufenden Feldzugs gegen die Palästinenser im Gazastreifen muss in Verbindung mit dem Siedlerkolonialismus verstanden werden. Dies führt uns zu den Konzepten von »langsamer« versus »schneller«, »heißer« versus »kalter« Gewalt: slow violence, fast violence, hot violence, cold violence. Diese Kontextualisierung bringt zum Vorschein, dass die Entfernung und die Eliminierung des einheimischen Volkes eine konstitutive Form der Gewalt und Strategie in der zionistischen territorialen Konsolidierung und völkermörderischen Expansion ist. Diese Eliminierung findet statt durch die Verhinderung von Geburten, die Tötung von Menschen durch Massaker, die erzwungene Assimilation nicht nur in die israelische sondern auch in andere arabische Gesellschaften. Die palästinensische nationale Identität wird negiert. All diese Phänomene kommen einem Völkermord gleich.

Wir können nur angemessen verstehen, was derzeit geschieht, wenn wir die vergangenen 76 Jahre betrachten. Wenn man die Geschichte erst am 7. Oktober beginnen lässt, dann dreht sich die Debatte nur noch darum, dass Israel Palästinenser nicht als solche ins Visier nimmt, sondern auf Grund ihrer Taten. Das heißt, dass sie verfolgt werden wegen dem, was sie am 7. Oktober getan haben – und nicht wegen dem, was sie sind: Palästinenser, die durch ihre bloße Existenz die zionistische Siedlerherrschaft bedrohen. Wie kann man also zum Kern der Sache vordringen, wenn man diesen Kontext nicht kennt?

Hier ist die Nakba, theoretisiert als zentrales internationales Verbrechen, dessen konstitutives Element die Aneignung des Selbstbestimmungsrechts ist, hervorzuheben – siehe beispielsweise die Arbeiten des Rechtswissenschaftlers Rabea Eghbariah unter Berufung auf Fayez Sayegh.

Wenn Apartheid auf rassische Vorherrschaft ausgerichtet ist und Völkermord auf Zerstörung, dann ist die Nakba auf die Unterdrückung der Selbstbestimmung ausgerichtet. Die Nakba ist nicht durch ein einzelnes Element gekennzeichnet, sondern zu ihr gehören ethnische Säuberung genauso wie Völkermord und Apartheid. Das müssen wir der Welt vermitteln. Zunächst besteht sie aus »ethnischer Säuberung« und Vertreibung, wird dann durch Apartheid konsolidiert und reguliert, um diese Vorherrschaft aufrechtzuerhalten und die Beseitigung der Indigenen fortzusetzen. Und am Höhepunkt des Scheiterns dieser langwierigen Eliminierung der indigenen Gesellschaft steht der unverhohlene Einsatz völkermörderischer Gewalt mit fortgeschrittenen Waffentechnologien und nicht existierenden »roten Linien«. Unter Beifall von Kolonial-, Siedlerkolonial- und Atommächten, die uns nur als ein »Problem« sehen, das es zu verwalten – und nun: zu beseitigen – gilt.

Diese Staaten sehen uns nicht. Und wir sollten nicht darauf warten, dass sie uns sehen, denn wir sehen uns selbst. Wir sehen uns, wie wir Freiheit und Befreiung fordern.

Übersetzung aus dem Englischen: jW

Quelle: Livestreamaufzeichnung www.youtube.com/watch?v=7USLU5XHkkA&t=2s

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