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Aus: Grundrechte verteidigen, Beilage der jW vom 29.06.2024
Staat gegen junge Welt

Konstruierte Vorwürfe

Im Mittelpunkt der Anschuldigungen des Geheimdienstes gegen die junge Welt steht deren marxistische Orientierung
Von Denis Gabriel
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Der Inlandsgeheimdienst ist seit vielen Jahren gegen die junge Welt aktiv: Zeitung, Verlag und Genossenschaft seien »Personenzusammenschlüsse« zum Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse, lautet die Begründung. Beweise für diese ungeheuerliche Beschuldigung liefert er aber weder in Verfassungsschutzberichten noch in den bislang eingereichten Unterlagen im Verfahren des Verlags 8. Mai GmbH gegen die Bundesrepublik. Auch in der Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Linksfraktion vom Frühjahr 2021 fehlen sie.

Rosa-Luxemburg-Konferenz

Denn es gibt sie nicht. Genannt werden lediglich »gewichtige Anhaltspunkte« für die krassen Beschuldigungen. So haben die Geheimdienstler herausgefunden, dass die junge Welt ein »Aktionsbüro« unterhalte. In anderen Verlagen nennt man das Marketingabteilung: Es ist zuständig für Abowerbe- und Verteilaktionen auf Veranstaltungen, Messen und Demonstrationen. Für den Verfassungsschutz ist das jW-Aktionsbüro dafür da, den »Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse« umzusetzen. Ein weiterer schwerwiegender Anhaltspunkt: Die junge Welt führe jährlich im Januar sehr erfolgreich eine Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz mit zuletzt über 3.600 Teilnehmenden durch. Dort wird zwar viel inhaltlich diskutiert, und die Positionen in den Vorträgen stimmen wohl selten mit denen der Bundesregierung überein – aber weshalb dies ein Anhaltspunkt für das Organisieren des Umsturzes sein soll, bleibt ein Rätsel. Als ob nicht jede andere überregionale Tageszeitung ebenfalls Veranstaltungen und Konferenzen für ihre Zielgruppen durchführt.

Absurder geht nicht? Aber doch! Die junge Welt, behauptet der Geheimdienst, strebe konkret eine Diktatur des Proletariats nach klassischer marxistisch-leninistischer Lehre an, mit Einparteiensystem ohne Opposition. Auch diese Beschuldigung kann nur mit »gewichtigen Anhaltspunkten« belegt werden: Die Umsturzabsichten ergäben sich etwa aus einer »verherrlichenden« Darstellung des sozialistischen Kuba sowie einer politischen und moralischen Rechtfertigung der DDR im Blatt. Oder daraus, dass die junge Welt den venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro als Präsidenten bezeichne und den sich selbst zum Staatsoberhaupt ernannt habenden Oppositionspolitiker Juan Guaidó als »Möchtegern«-Präsidenten. Eine Einschätzung, der mittlerweile noch nicht einmal die Bundesregierung widersprechen würde, aber was soll’s …

»Einzelne Autoren und Redaktionsmitglieder«, so der Geheimdienst, seien dem »linksextremistischen« Spektrum zuzuordnen. Konkret werden neun Personen genannt – von weit über 1.000 für die jW in den vergangenen Jahren tätigen freien Autoren und Mitarbeitenden in Verlag und Redaktion. Aber selbst bei diesen neun genannten findet der Geheimdienst (trotz jahrelanger Beobachtung mit geheimdienstlichen Mitteln) nur Belanglosigkeiten: Dem einen wird vorgeworfen, auf einem Fest der DKP-Zeitung UZ gesehen worden zu sein und zudem eine Traueranzeige für einen DDR-Politiker unterzeichnet zu haben. Der andere sei vor 25 Jahren Redakteur einer Flugschrift der Kommunistischen Plattform der PDS München gewesen und stehe nun ehrenamtlich einem Archivverein mit Kontakten zur Roten Hilfe vor. Eine weitere Person wird deshalb als Linksextremist markiert, weil sie einst Offizier in der Nationalen Volksarmee gewesen sein soll. Wem solche »Anhaltspunkte« der Agenten noch immer nicht gewichtig genug erscheinen, wird sich wohl vom folgenden überzeugen lassen: Die Spione haben nämlich herausgefunden, dass die Gründung der Genossenschaft der jungen Welt 1995 an einem 7. Oktober erfolgt sei – exakt an dem Tag, an dem auch die Deutsche Demokratische Republik 1949 gegründet wurde!

Klassenkampf im Blatt

Im Mittelpunkt der Vorwürfe steht aber die grundsätzliche Haltung der Tageszeitung: Sie orientiert sich tatsächlich am Marxismus als Methode zum Erkennen und Beschreiben von hiesigen wie weltweiten Vorgängen. Haarscharf analysiert der Verfassungsschutz, dass die junge Welt in Beiträgen und Kommentaren »von einem bestehenden Klassenkampf ausgehe« und, noch schlimmer, die Verhältnisse für veränderbar halte. Schon die – auch von einer Vielzahl nichtmarxistischer Sozialwissenschaftler – geteilte Erkenntnis von der Existenz unterschiedlicher Gesellschaftsklassen verstoße gegen das Grundgesetz. »Beispielsweise widerspricht die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde. Menschen dürfen nicht zum ›bloßen Objekt‹ degradiert oder einem Kollektiv untergeordnet werden, sondern der einzelne ist stets als grundsätzlich frei zu behandeln«, schreibt die Bundesregierung in der Antwort auf die kleine Anfrage der Partei Die Linke der Zeitung vor (BT-Drs. 19/29415).

Bei der Präsentation des Verfassungsschutzberichts im Juni 2021 wird der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer von einem Journalisten auf diesen Unsinn aus seinem Hause angesprochen. Der kann das gar nicht glauben: »Dann wäre ich auch Verfassungsfeind!«, entfuhr es dem CSU-Politiker lachend. Er verwende zwar nicht den Begriff Klassengesellschaft, aber »die Spaltung in unserer Gesellschaft« sei ja »vollkommen unbestritten«.

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