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Aus: Fankultur, Beilage der jW vom 31.07.2024
Fankulturbeilage

Zum Ruhme der Zuschauerschaft

Stimmungshändler, Stimmungstöter: Das Sachbuch »Fans« von Ilija Trojanow und Klaus Zeyringer (mit Werbeblock des Grauens)
Von Alexander Reich
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Oberkörperfrei: Jagen die Spitze des Pelotons bei der Königsetappe der Tour de France nach Alpe d’Huez

Das Wort »Fan« kommt vom lateinischen »fanaticus« – Anhänger einer Religion, der an heiligen Orten orgiastische Rituale mitvollzieht. Heute nennen die Italiener ihre Fußballfans lieber »tifosi«. Das ist vom griechischen Wort für Typhus abgeleitet. Eine ansteckende Krankheit mit dem Zeug für eine Massenpanik. Nach diesem Teilchen der Begriffsgeschichte geht es beim Fan-Sein um Enthemmung. Um Exzess. Wer sich noch völlig unter Kontrolle hat, während er mitfiebert, ob nun bei Tennis oder Leichtathletik, ist kein Fan. Nicht im Sinne der Ultras, die seit den 1980er Jahren in den Fußballigen Europas neue Maßstäbe gesetzt haben mit ihren Choreos und Chören »gegen den modernen Fußball«. Der war dabei absolut nicht aufzuhalten mit all seinen Stimmungstötern, von den Trikotbergen bis zum Pay-TV.

Der Kampf des herkömmlichen Fußballfans gegen den Moment, wo du im ausverkauften Stadion die Stecknadel fallen hörst, wird bejaht im Sachbuch »Fans« von Ilija Trojanow und Klaus Zeyringer. Vielleicht bis auf die Stelle über das »Museum des Machismo« und den »Kult des Körpers und des Biers, ein selten bedachter Widerspruch«. Aber es geht in dem Buch auch um andere Möglichkeiten, sich bei Sportwettkämpfen selbst zu vergessen. Ohne gleich die Sau rauszulassen.

Im portugiesischen Wort für Fan, »­torcedor«, stecke »das Leiden«, teilen die Autoren mit Hang zum Fado-Kitsch mit. Und im Chinesischen heiße der Fan »­quimi«. Wörtlich übersetzt, lauteten die beiden Schriftzeichen: »Person, die von einem Ball verzaubert wird«.

Wie wenig ein Ball alleine reicht, ist Trojanow und Zeyringer angesichts von Corona­geisterspielen aufgefallen. »Eine Welt ohne Fans regte uns an, die Fans im Sport zu beschreiben.« Auffällig sei gewesen, »wie wenig dieses Fanomen beschrieben und reflektiert wird, fast so, als wäre die Ekstase auf den Rängen einer intellektuellen Beschäftigung nicht würdig«.

Allzu intellektuell reflektiert ist das Buch zum Glück nicht. Das meiste sind Reportagen, etwa über ein Musterbeispiel für Fans, die sich selbst genug sind. Bei der Darts-WM im Ally Pally in London, wo »die Fans wichtiger sind als die Spieler«. Wo sie anarchisch »johlen und jaulen«, bis »alle Hemmungen trunken unter den Tischen liegen« wie seit den Anfängen des Sports im Pub. »Nicht das Wettkampfgeschehen treibt zur Ekstase, sondern die kollektive Ekstase treibt den Wettkampf an.«

Bis in die 70er Jahre war es für Besucher großer Sportveranstaltungen undenkbar, sich selbst zu feiern, ohne noch groß auf das Wettkampfgeschehen zu achten. Aber »Stimmung ist in der kapitalistischen Eventgesellschaft eine Ware«, wie die Autoren schreiben. »Das Publikum kommt des Publikums wegen«, verstärkt jedenfalls. Und es gibt viel schlimmere Gründe für den Besuch eines Sportevents.

Eine Reportage erzählt von einer Königsetappe der Tour de France. An den 21 Kehren hinauf nach Alpe d’Huez feiern Zehntausende »ihr eigenes Fest«, viele sind den Berg am Vortag selbst hinaufgeradelt. Alles tutti, aber dann zieht im Buch die »Werbekarawane vorbei, riesige Aufbauten auf Lastern und Pick-ups, ein Karnevalsumzug getrieben von Technomusik und Reklameschnulzen«. Wer davon noch nichts gehört hat, wird ganz langsam vom Laster überrollt: »Eine Dreiviertelstunde lang folgt Markensymbol auf Markensymbol: Flaschen und Obst in allen Farben, Kaffee und Waschmittel, Hühner und Camembert (…), Asterix-Figuren, garniert mit plärrenden Lautsprechern und hopsenden Hostessen. Tag um Tag müssen sie stundenlang lächelnd tanzen und Werbegeschenklein ins Publikum werfen. (…) Die Gewerkschaft CFDT verteilt sozialdemokratische Kugelschreiber. Aus rot gepunkteten Renaults fliegen plastikverpackte Würstchen. (…) Das Kommerzspektakel dauert eine ­halbe Ewigkeit, das Peloton hingegen saust im Flachland in wenigen Sekunden vorbei. Die Tour de France ist das einzige Groß­ereignis der Welt, bei dem die Werbung hundertmal mehr Zeit okkupiert als der Sport. Die beteiligten Firmen bezahlen den Veranstaltern viel. Halb Frankreich sitzt vor dem Fernseher, ein Fünftel der Bevölkerung steht am Straßenrand. Eine Umfrage vor zehn Jahren ergab, dass knapp die Hälfte wegen der Werbekarawane kommt.«

Fans können im Durchschnitt kaum besser sein als die Zeiten, in denen sie leben. Und je größer ein Sportereignis, desto stärker wird es auf ungestörten Konsum ausgerichtet. Für die Zahlungskräftigeren, Mittelschichtsfamilie aufwärts. Leute, die auch mal was erleben wollen, aber nicht so viel. Denen kaum noch ein kleinster gemeinsamer Nenner bleibt außer Sportfan. Im Gegensatz zu Taylor Swift weiß man beim Fußball auch nicht genau, wer gewinnt. Andererseits ist das Sicherheitsgefühl in den Stadien schwächer. Dort behaupten sich Fans, die ausrasten, wenn der Verein, dem sie seit dem Bolzplatz die Treue halten, untergeht, um nächste Woche, so Gott will, wieder aufzutauchen.

Unter dem Strich haben Trojanow und Zeyringer wohl am meisten für Anhänger übrig, die gemeinsam austicken, aber dabei möglichst unterschiedlich. Möglichst wenig formiert. Wenn es heißt, »die Fans wiegen sich folgsam nach links und rechts«, ist das nicht unbedingt als Kompliment gemeint, bei aller Sympathie an dieser Stelle für die Spielerinnen der 26. Frauen-Handball-WM Ende 2023 in Nordjütland, die »zu einem niederländischen Lied tanzen, das aus den Worten ›rechts‹ und ›links‹ besteht«.

Auch an der berühmten La-Ola-Welle ist für Trojanow und Zeyringer immerhin interessant, dass etwa 30 Menschen und die »Bewegungslust der Menge« ausreichen, um sie ins Rollen zu bringen, bis sie »oft an den VIP-Tribünen zerschellt, worauf das gemeine Volk mit Pfiffen reagiert«. Den Nachteil vermerken sie auch: Die Welle hat ihren spanischen Namen von einem Coca-Cola-Werbespot zur Fußball-WM 1986.

Was für die Autoren letztlich überhaupt nicht geht, sind Olympia- oder WM-»Eröffnungsspektakel«, bei denen »die autoritäre Zurichtung des Publikums (…) in perverser Perfektion vorgeführt wird. (…) Die Zuschauerinnen und Zuschauer werden zu Statisten degradiert, manchmal wortwörtlich zu einer Nummer, die dem Einzelnen vorgibt, wann er oder sie eine Farbtafel hochzuhalten hat. (…) Diese zentralistische Inszenierung ist zum Ruhme der Herrschaft, nicht der Zuschauerschaft.«

Hier wird das anarchistische Moment des Fanomens womöglich etwas überbetont, und vielleicht taucht im Buch auch darum kein BFC-Fan auf. Aber es wird an einen berühmten Anhänger von Zenit St. Petersburg erinnert: Nicht Wladimir Putin, sondern Dmitri Schostakowitsch führte ein extra Notizbuch mit Spielberichten, Aufstellungen und Statistiken. Damals hieß die Mannschaft allerdings noch ­Stalinez ­Leningrad.

Ilija Trojanow, Klaus Zeyringer: Fans – Von den Höhen und Tiefen sportlicher Leidenschaft. S. Fischer Verlag 2024, 272 Seiten, 26 Euro

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