75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Dienstag, 17. September 2024, Nr. 217
Die junge Welt wird von 2939 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Fankultur, Beilage der jW vom 31.07.2024
Fankulturbeilage

Auf Schritt und Tritt

Nach der Fußball-EM: Neue Überwachungsmaßnahmen gegen Fans dürften fortbestehen. Etwa das Livetracking, kritisieren Fanorganisationen
Von Oliver Wiebe
4.jpg
Ständige Begleitung: Repressionskräfte dokumentieren und schikanieren fröhliche Anhängerscharen während der EM in der BRD

Davor haben Fanorganisationen gewarnt, etwa der bundesweite Dachverband der Fanhilfen: Die EM im eigenen Land könnte zur ausufernden Überwachung von Fußballanhängern führen. Linda Röttig, Anwältin aus Dresden und Vorstand im Dachverband, sagte schon im Mai: »Die Polizei hat den Ligaalltag genutzt, um nicht nur Fans ganz bewusst einzuschüchtern, sondern auch um Einsatztaktiken und gezielte Aktionen für das Großturnier der EM zu erproben. Fußballfans wurden somit ganz gezielt zu Versuchskaninchen gemacht.«

Aus der Erfahrung der Weltmeisterschaft 2006 heraus war für viele kritische Fans klar: Das, was die Polizei – zusammen mit der UEFA – zur Kontrolle der Fans neu entwickelt, wird nach der EM nicht im Giftschrank verschwinden, sondern sich etablieren. Bei der WM 2006 waren das unter anderem Meldeauflagen und Betretungsverbote, die die Polizei großzügig an Fans ausgestellt hatte, die in den polizeieigenen Datenbanken registriert waren. Die Folge waren wahllose Auflagen für Fußballfans – ein tiefer Eingriff in die Grundrechte –, Fans wurden kriminalisiert, die gar keine Ambitionen hatten, die Weltmeisterschaft in irgendeinem Stadion oder einer Fanzone zu verfolgen. Manche mussten sich täglich bei der Polizei melden oder hatten Betretungsverbote für ganze Stadtgebiete wie Berlin. Die Weltmeisterschaft wurde somit schon 2006 für viele Fans kein Fußballmärchen, sondern die reinste Tortur.

18 Jahre nach diesen negativen Erfahrungen für viele aktive Fußballfans in Deutschland versprach der Turnierleiter der EM 2024, Exnationalspieler Philipp Lahm, dass alles anders würde. Vor Beginn der Spiele hatte er verkündet, dass die EM im eigenen Land ein Festspiel der westlichen Werte sein und für Zusammenhalt in der Gesellschaft sorgen solle. Verbote und Auflagen für Fans wie im Jahr 2006 solle es nicht geben. Wieso auch – die Digitalisierung ist soweit vorangeschritten, dass es längst andere Möglichkeiten gibt, Menschenmassen zu überwachen.

Ende Juni, mitten im Turnier, zog der Bayerische Rundfunk ein erstes Resümee über Pyrotechnik, Polizei und Pfefferspray bei der EM. Bis auf einige wenige Ausnahmen, so das Fazit des BR, blieb es relativ ruhig in den Stadien. Dazu wurden unterschiedliche Protagonisten durch den BR befragt. Brigitte Rottberg, Leiterin des EM-Lagezentrums in München, sprach fast ganz nebenbei davon, dass die Polizei stets ein Auge und Ohr bei den Fans habe. Freimütig beschrieb sie vor laufenden Kameras das extra zur Europameisterschaft entwickelte Livetracking von Fans bei der An- und Abreise zum Stadion. Auf einer sogenannten Heatmap, einer digitalen Karte zur Datenvisualisierung, zeigte sie, dass individuelle Bewegungsdaten von Fans über eine App der UEFA erfasst und an die Polizei weitergeleitet wurden. Die Polizei nutze die Daten zur Überwachung der Verkehrswege, so Rottberg.

Der Dachverband der Fanhilfen wurde daraufhin stutzig und hinterfragte die rechtliche Grundlage für die Observation in Echtzeit: Auf welcher rechtlichen Grundlage werden Bewegungsdaten von Fans aufgenommen, an die Polizei übermittelt und gespeichert? Wie werden die einzelnen Fans über diese Überwachungsmethoden informiert? Wer hat diese Maßnahmen überhaupt angeordnet? Klar ist, dass eine App, die im Zusammenhang mit den digitalen Eintrittskarten zu den EM-Stadien für die Fans angeboten ­wurde, diese Standortdaten übermittelt hat. Die Eintrittskarten zur EM wurden ausschließlich digital bereitgestellt, um den Schwarzmarkthandel mit den Tickets einzudämmen. Zusätzlich gab es eine EM-App, um etwa den ÖPNV am jeweiligen Austragungsort kostenfrei zu nutzen. Diese App hat die Standortdaten übermittelt, wobei die UEFA im Nachgang des medialen Echos auf die Enthüllung dieser neuen Überwachungsmethoden betont hat, dass keine personenbezogenen Daten weitergegeben wurden.

Die Deutsche Fußballiga (DFL), die die Spiele der ersten und zweiten Bundesliga organisiert, teilte mit, dass es keine Pläne für eine ligaweite, einheitliche Ticketing­lösung gebe. »Die Art und Weise, wie ­Tickets vertrieben und verteilt werden, liegt in der Autonomie der Klubs«, so die DFL. Fußballfans bleiben dennoch alarmiert und befürchten diese Maßnahmen auch bei Ligaspielen hierzulande. Das Livetracking zeigt deutlich, wie sehr sich die Polizeimethoden verselbstständigt haben. Neue digitale Überwachungsmethoden werden längst nicht mehr im Bundestag oder in den Landtagen gesetzlich legitimiert, sondern die Polizei entwickelt sie einfach selbst. Es braucht keinen Auftrag durch die gewählten Volksvertreter mehr, sondern die Polizei handelt längst eigenständig. Das führt zu Auswüchsen wie dem Livetracking, das datenschutzrechtlich höchst bedenklich ist.

Fans, die davon betroffen sind, sind auf sich gestellt. Der Dachverband der Fanhilfen hat sich deshalb zu Wort gemeldet. »Wir bezweifeln, dass sich betroffene Personen im Klaren darüber sind, bei Nutzung der App derart unverhältnismäßig überwacht zu werden.« Diese Maßnahme sei das Ergebnis einer Entwicklung, »die sich bereits in der gesamten vorherigen Saison abgezeichnet hat, in der Fußballfans unverhältnismäßig überwacht und kriminalisiert wurden«. Bestehende Probleme bei der An- und Abreise mit dem ÖPNV, von denen Fans während der EM immer wieder berichten, konnten dem Dachverband zufolge durch das Tracking »überhaupt nicht gelöst werden und sind somit kein Argument für die App«.

Die Befürchtungen der Fanhilfen: Die neuen Überwachungstechniken werden nach der EM nicht eingestellt, sondern auch im Ligaalltag eingesetzt. Der Dachverband der Fanhilfen hat angekündigt, die Standortüberwachung im Bundestag zu thematisieren und prüft eine Beschwerde beim Bundesdatenschutzbeauftragten.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Mehr aus: Sport