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Aus: Fankultur, Beilage der jW vom 31.07.2024
Fankulturbeilage

Revival mit Patina

Das Relegationsduell in der DDR-Oberliga von 1984 erfährt eine Neuauflage: BSG Chemie Leipzig und 1. FC Union Berlin im Freundschaftsspiel
Von Michael Merz, Leipzig
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Capo aus Köpenick balanciert auf Zaun im Leipziger Alfred-Kunze-Sportpark. Dort, wo Anarchie herrscht

Aus dem Mund der Unioner gibt es wohl kein größeres Kompliment: »Mann, ist das ehrlich hier«, entfährt es begeisterten Fans aus dem Lager der Eisernen an diesem Sonnabend nachmittag immer wieder. Mit leuchtenden Augen stehen sie auf den Rängen des schwer in die Jahre gekommenen Gästeblocks des Alfred-Kunze-Sportparks im nicht nur wegen der BSG Chemie besonders grünen Leipziger Stadtteil Leutzsch. Auch ihr heimisches Stadion an der Alten Försterei in Berlin-Köpenick ist nicht gerade von der Kategorie hypermodern.

Aber hier ist der Ostcharme noch viel greifbarer, auch wenn die Anzeigetafel bereits »elektronisch« den falschen Spielstand anzeigt und nicht denkmalgeschützt per Hand die Ziffern ausgetauscht werden wie an der Wuhlheide. Die Patina im Leutzscher Holz hat was: Schiefe Gehwegplatten laden zum Stolpern ein, das Unkraut wuchert schon fast dschungelartig oder ist herausgerissen zu größeren Heuhaufen aufgetürmt, dazwischen stehen ziemlich oft benutzte Dixieklos. Es gibt improvisierte Getränkestände, die Jungs und Mädels an den Zapfhähnen mühen sich redlich. Und ein Dach braucht es schon gar nicht, klatschnass lässt es sich nach den ersten Starkregenschauern noch lauter »Eisern Union« rufen.

Der Anlass, weswegen der Bundesligist beim Regionalligisten aufläuft, ist ein legendäres Revival. Die Zuschreibung Freundschaftsspiel würde es wohl treffender ausdrücken, heutzutage nennt man solch eine Begegnung etwas abgekühlt Testspiel. Und diesmal sollte es was zu feiern geben für die Berliner, vor genau 40 Jahren war das nicht so. Da war beinharter Kampf gegen den Abstieg angesagt, bedröppelt mussten die Unioner danach wieder von dannen ziehen und die Liga wechseln. Ein paar Randale soll es auch gegeben haben zwischen den Chemikern und Unionern, die sich eigentlich in der Vielfalt der Fußballszene des Ostens ganz gut leiden konnten angesichts ihrer übermächtigen lokalen Rivalen – Lok in Leipzig und BFC in der Hauptstadt.

Hölzerne Tribüne in Leutzsch

Big Brother war noch eifrig am ­Watching, damals, im Frühsommer 1984 in der DDR. Und so hatte erwartungsgemäß Dynamo aus Berlin zum sechsten Mal in Folge die Meisterschaft in der Fußball-Oberliga geholt. Was sich am anderen Ende der Tabelle tat, war hingegen ungleich aufregender und sogar einzig­artig: Da gingen am letzten Spieltag im Match zwischen BSG Chemie Leipzig und 1. FC Union Berlin zum Abpfiff beide Mannschaften punkt- und torgleich vom Platz. Wer von den beiden Letzten sollte nun absteigen, welcher erstklassig bleiben? Es folgte ein Drama, das damals 70.000 Fans in den Stadien der beiden Städte verfolgten: Noch weitere zweimal in einer legendären Fußballwoche mussten die Außenseiterteams in Relegationsduellen gegeneinander antreten. Letztlich machten die Chemiker im letzten Spiel am 6. Juli mit einem Tor Vorsprung den Sack zu, die Eisernen wurden aus dem Oberhaus gekickt.

Helden von damals stehen zum großen Fußballfest wieder auf der hölzernen Tribüne in Leutzsch. Wie BSG-Urgestein Hansi Leitzke zum Beispiel, der damals mit dem Kopf das 1:1 in der Wuhlheide gemacht hatte und im Rückspiel den zweiten Treffer zuhause eintütete. »War schon nicht so verkehrt«, sagt er heute zu seiner einstigen Fähigkeit, den Union-Hünen im Tor überwunden zu haben. Leitzkes Trikot hing danach in Fetzen an ihm, Platzsturm, die Fans kriegten sich so schnell nicht wieder ein.

»Ich war auch dabei«, hört man es aus allen Ecken an diesem 6. Juli 40 Jahre später auch bei der Anreise von Veteranen unter den Union-Fans. »War nicht so schön letztendlich, aber vergessen werde ich’s niemals«, sagt einer, der es wissen muss. Ganz im Sinne des Jubiläums lässt sich die Staatsmacht auch diesmal nicht lumpen. Ein riesiges Polizeiaufgebot empfängt die Berliner auf dem Hauptbahnhof der Messestadt. 150 Regionalbahn fahrende Unioner, die in Wittenberg ihren Anschlusszug verpasst hatten und in einen IC gesprungen waren, um rechtzeitig zum Spiel zu kommen, werden erst mal einkassiert. »Es handelt sich um Schwarzfahrer. Deswegen müssen ihre persönlichen Daten erfasst werden«, so Jens Damrau, Sprecher der Bundespolizeiinspektion Leipzig, erbarmungslos gegenüber der LVZ.

Putz und Pyros

Ein übel schmeckender Wermutstropfen an diesem so beschaulichen Fußballnachmittag, den die Leipziger Polizei angesichts ihrer übermäßigen Präsenz offensichtlich stressiger als nötig gestalten will. Die Laune lassen sich die Eisernen aber nicht vermiesen. Eine gefühlte Ewigkeit wird die Fanmeute am Bahnhof eingekesselt. Polizeilich registriert und fotografiert werden auch die, die ein ­Ticket haben, gepullert wird zur Not in eine Flasche. Dann geht’s endlich raus nach Leutzsch. Einer der vielen Bundespolizisten hat vor dem Sportpark auch mal ein nettes Wort übrig: »Eigentlich sind wir ja nicht wegen euch hier, aber Lok hat heute auch ’n Spiel, da sind ein paar Idioten drunter, und wir müssen ein bisschen aufpassen.«

Ach ja, ein Spiel sollte es auch geben. Mit 5.000 Zuschauern ist der Kunze-Sportpark ausverkauft. Die Chemiker hauen ordentlich auf den Putz, Pyros werden gezündet, es gibt eine Choreo für die alten Helden. Für seine Premiere lässt der neue Union-Cheftrainer Bo Svensson alle verfügbaren Spieler von der Leine. Im frisch aufgelegten Trikot, ungewöhnlich gelb ist es, pressen sie die Chemiker zunächst konstant in deren Hälfte. Die BSG verteidigt effektiv, es braucht eine halbe Stunde, bevor Rani Khedira für Union den ersten Treffer im Netz landet. Der Gästeblock tobt. Ein paar Minuten später erhöht Yorbe Vertessen cool im Vorbeigehen auf 2:0.

Zur Halbzeit kommt für die Eisernen mit Jaden Rodtnick ein neuer Torhüter aus der U 19 ins Team. Viel zu tun hat er, wie auch zuvor Alexander Schwolow, nicht. Dafür geben die Feldspieler im heftigen Regen noch mal richtig Gas, am Ende steht es 0:4. Benedict Hollerbach und Neuzugang Ivan Prtajin gelingen weitere zwei Tore. Das Ergebnis ist eher zweitrangig, der Spaß am Spiel ist das Ereignis. Und auch der neue Chefcoach ist zufrieden mit seinem umjubelten Einstand: »Super, so ein Testspiel hatte ich mit meinen Exvereinen noch nicht«, freut sich Svensson nach seinem Debüt, umringt von Fans in Rot-Weiß. Die Saison kann beginnen. Freundschaft!

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