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Aus: Fankultur, Beilage der jW vom 31.07.2024
Fankulturbeilage

Ein Bezirk, alles drin

Berliner Stadtteil Lichtenberg hat fußballerisch viel zu bieten. Ein Spaziergang lädt ein zu Finalspielen, Europapokalträumen – und Rotsport
Von Emil Eggebrecht
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Nostalgie pur: Arbeiterkicker von Sparta Lichtenberg in den 1920er Jahren in Spiellaune und auf Torejagd

Wer am Bahnhof Ostkreuz aussteigt, landet meist als erstes im Partyviertel von Friedrichshain. Wer den zentralen Umsteigepunkt aber Richtung Osten verlässt, steht alsbald am Ufer der Rummelsburger Bucht und damit inmitten der Fußballgeschichte Berlins. Hier, wo der umstrittene Exstadtrat Kevin ­Hönicke (SPD) während der Coronazeit ein Obdachlosencamp räumen ließ, soll in den nächsten Jahren die nicht minder umstrittene »Coral World« entstehen, ein Riesenaquarium, vergleichbar dem, das Ende 2022 geplatzt ist.

Bis 2007 befand sich dort der Sportplatz Kynaststraße, der zum Beginn der Weimarer Republik durch die Arbeiter der Freien Turnerschaft Lichtenberg angelegt wurde und schließlich den Planungen des Ostkreuzumbaus weichen musste. Auf ihm fanden schon in den 1920er Jahren große Schlachten statt. Die wohl größte war das erste der sogenannten Russenspiele, als eine Auswahlmannschaft aus dem sowjetischen Charkow 1925 gegen eine Berliner Arbeiterauswahl antrat. 15.000 Zuschauer strömten an die Kynaststraße, belagerten die Wälle der Ringbahn und den Bahnsteig des Ostkreuzes, um einen 4:1-Sieg der Gäste zu bestaunen.

Seelenbinder, Arbeitersportler

Zehn Jahre später schlug an gleicher Stelle der Vorgänger von Berolina Stralau den Erstligisten Vorwärts-Rasensport Gleiwitz vor 4.000 Zuschauern und sorgte damit für die erste Sensation in der langen Geschichte des DFB-Pokals. Zu DDR-Zeiten spielte vor allem Sparta Lichtenberg am Ostkreuz und fanden hier ab den 70er Jahren die Pokalfinalspiele Ostberlins statt. Mit der Schließung des Platzes zogen die Spartaner auf den neuangelegten Sportplatz Fischerstraße und kämpften sich in den vergangenen Jahren bis in die NOFV-Oberliga vor. Der Werdegang des Stadtteilvereins wurde in den vergangenen Jahren intensiv durch ihren Archivar Gerhard Schenk aufgearbeitet, und zum 111. Gründungsjahr des SV Sparta organisierte der Klub eine beeindruckende Ausstellung zur Vereinsgeschichte.

Unser Spaziergang aber führt uns längst auf die andere Seite des Bahndamms in den Kaskelkiez. Dort in der Hauffstraße feierte zuletzt Traktor Boxhagen als Freizeitmannschaft überraschende Pokalerfolge. Sparta bejubelte hier 1931 seinen wohl größten Erfolg. Nachdem sich die kommunistisch geprägten Arbeitervereine vom SPD-nahen Arbeiter-Turn- und Sportbund (ATSB) abgespalten hatten, spielten sie als Rotsportler ihre eigene Meisterschaft aus, in der sich Sparta erst im Finale gegen den Dresdner SV geschlagen geben musste. Die Lichtenberger hatten sich einen guten Namen gemacht. Ihr bekanntester Sportler war der Ringer Werner Seelenbinder, der 1944 von den Faschisten ermordet wurde. Nach seinem Vereinskollegen Johannes Zoschke wurde 1952 das Stadion an der Normannenstraße benannt.

Die Howoge-Arena »Hans ­Zoschke«, wie das Stadion heute heißt, ist in den vergangenen 75 Jahren zu einem der wichtigsten Orte des Berliner Fußballs geworden. Gleich zu seiner Eröffnung als Stadion, zuvor ein einfacher Sportplatz, wurde es mit dem Finale um den FDGB-Pokal geadelt. 18.000 Fußballfreunde stellten beim Sieg des SV Deutsche Volkspolizei Dresden über Einheit Pankow den bis heute gültigen Rekord auf. Danach wurde es ruhiger im zweitgrößten reinen Fußballstadion der Hauptstadt. Der Heimverein, Lichtenberg 47, schaffte es gelegentlich in die zweite Liga der DDR, zog aber nie die großen Massen an. Dennoch störte sich die benachbarte Stasi an dem Stadion und drängte mehrfach erfolglos darauf, es abreißen und ihre Zentrale erweitern zu können.

Auf dem »Sternenacker«

Nach der Wende fand im Zoschke-Stadion das Einheitsspiel der beiden Berliner Fußballverbände statt. Vor nur 200 Zuschauern siegten die Kicker des Westberliner BFV über den FVB mit 4:2. Einen Monat später traten die Ostberliner unter Führung von Uwe Piontek dem BFV bei. Die Hausherren unterdessen wurden ab den 2000er Jahren zu einem Namen im überregionalen Fußball des NOFV, spielten ab 2019 vier Jahre in der Regionalliga und empfingen Größen, wie Chemie und Lok Leipzig, Carl Zeiss Jena und Energie Cottbus.

Die Route des Streifzugs führt uns nun weiter nördlich. Vorbei am Sportplatz Bornitzstraße, der vor vielen Dekaden nach dem einstigen Heimverein spöttisch Sternenacker genannt wurde, erreichen wir den Landschaftspark Herzberge. In dessen Nordwesten wartet eine echte fußballhistorische Perle.

Das einstige Lichtenberger Stadion wäre nämlich um Haaresbreite zum Geburtsort des deutschen Profifußballs geworden, als eine eigens gegründete Fußball-GmbH im Sommer 1920 ein erstes Werbespiel ansetzte. Dass der Kick zwischen dem 1. Deutschen Berufs-FC und dem als 1. Ungarischen Berufs-FC antretenden MTK Budapest nicht stattfand, lag an der geschlossenen Front sämtlicher Konfessionen und politischen Organisationen, die sich gegen die ehrenlose Lohnarbeit am Ball wandten.

Große Pläne für die Ränge

In den nächsten Jahren wurde der Ground, ähnlich dem Sportplatz Kynaststraße, zu einem Hotspot des Arbeitersports, fanden auch hier die sogenannten Russenspiele statt und organisierten die Kommunisten Kundgebungen mit 50.000 Menschen, mit Reden unter anderem von Ernst Thälmann. Geschlossen wurde das Stadion 1973, als ein Zeltplatz für die Weltfestspiele der Jugend gebraucht wurde. Heute lassen nur noch verwilderte Ränge erahnen, dass hier mal um Tore gekämpft wurde.

Schließlich kommen wir zum Sportforum, einem der größten Sportareale Europas. Große Pläne in den 60er Jahren, das Stadion mit zwei Rängen auf eine Kapazität für 30.000 Zuschauer auszubauen, wurden nie realisiert. Dennoch empfing der BFC Dynamo auch hier hochkarätige Gegner wie den FC Liverpool. Letztmals international wurde es, als sich die Dynamos 1986 im Landesmeistercup mit 1:1 von Brøndby Kopenhagen trennten. Seit 2021 darf der BFC hier wieder Regionalliga spielen. Man ahnt, dass die Saga des einstigen Serienmeisters noch längst nicht auserzählt ist. Im Arete-Verlag erschien jüngst das Buch »Fußballheimat Berlin«. Es erzählt die Geschichte und Geschichten entlang des Fußballs in der Hauptstadt.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

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