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Aus: Fankultur, Beilage der jW vom 31.07.2024
Fankulturbeilage

Billy Boys und Fenians

Fußball in Belfast: Stimmung bei Derbys immer noch vom alten Irland-Konflikt dominiert – konfessionell, politisch.
Von Dieter Reinisch, Belfast
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Irish Cup: Dynamische Krabbelgruppe von Cliftonville FC im verhassten Belfaster Windsor Park am 30. März 2024

Sogar der Name des Sports ist in Nordirland umstritten: Die einen sagen »Football«, die anderen »Soccer«. Der nordirische Fußball, zu dem ich in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten eine Art Hassliebe entwickelt habe, gilt als altmodisch, klassisches Kick-and-Rush. Also: viel Gebolze, viel Körpereinsatz, wenig Taktik, wenig Technik. Zwar ist die Rivalität zwischen Katholiken und Protestanten im Nordosten Irlands geringer als in Glasgow, wo Celtic und Rangers spielen, doch 25 Jahre nach dem Ende des Kriegs ist der Fußball in Belfast immer noch von Sektierertum und den Folgen bewaffneter Konflikte geprägt.

Wie am Ostersamstag abend. Sonnig ist es, aber eiskalt. Windsor Park, Nordirlands größtes Fußballstadion. Dutzende Kamerateams postieren sich zwischen Tribüne und Spielfeld, um das zweite Halbfinalspiel im Irish Cup der Irish Football Association (IFA) einzufangen, Cliftonville FC gegen den Larne FC. (Übrigens: Die IFA nicht verwechseln mit der Football Association of Ireland (FAI), dem Verband der südlichen Republik Irland.) Das Stadion ist die Heimat des Linfield FC, der »erfolgreichsten Fußballmannschaft der Welt«, wie es in der Selbstreklame heißt. Linfield aus Süd-Belfast wurde 1886 gegründet und gewann 56 Mal die Northern Ireland Football League Premiership (NIFL). Der Zuschauerschnitt im »Nationalstadion« liegt bei 2.500 pro Ligakick, rein passen rund 18.000.

An diesem Abend werden es knapp 6.000 Anhänger sein. Vor allem des Clifton­ville FC auf der Nordtribüne, die sich »Rote Armee« nennen. Cliftonville war offiziell Heimelf, spielt aber nicht im »Solitude«, der kleinen, heruntergerockten Heimstätte im katholischen Nord-Belfast. Die IFA hatte das Spiel in den verhassten Windsor Park verlegt. Davon unabhängig, auf dem Platz stehen zwei der besten nordirischen Teams der vergangenen Jahre: Cliftonville, der Drittplatzierte; Larne, der Titelverteidiger und Tabellenführer. Zwei Klubs, die auch für die weiterhin bestehende tiefe Spaltung im Nordosten Irlands stehen. Dazu später.

Kein Kick-and-Rush

Zum Spiel: Altmodisches, klassisches Kick-and-Rush? Nein, nicht in diesem Spiel. Technisch versiert, schnelles Passspiel, gute Torchancen. Klasse Kick. Und die Nordtribüne mit den Cliftonville-Fans bebt, als Sturmass Ronan Hale in der 86. Minute das 2:0 für sein Team erzielt. Das sollte auch der Endstand sein.

Cliftonville, Irlands ältester Klub, wurde nach dem Ende von Belfast Celtic im April 1914 zum Lieblingsteam der katholischen Anhänger und blieb bis heute das einzige katholische Team in der NIFL. Ein zweites katholisches Team ging einen anderen Weg: Nach Ausbruch des Kriegs in Nordirland verließ Derry City FC 1972 die NIFL und trat aus Sicherheitsgründen der FAI League bei.

Larne, die Stadt nordöstlich von Belfast, wurde in den zurückliegenden Jahren durch den Austritt Großbritanniens aus der EU international bekannt: Larne ist der Einfuhrpunkt für Waren, die über die Irische See von Großbritannien nach Nordirland verschifft werden. Wie mit eingeführten Waren im Hafen von Larne verfahren werden soll, ist seit fünf Jahren Gegenstand heftiger Debatten und Konflikte zwischen Brüssel und London. Ferner ist Larne ein Zentrum des bewaffneten Loyalismus, nämlich der Southeast Antrim Faction der Ulster Defence Association (UDA). Einer »Splittergruppe« von Hunderten Mitgliedern der Mainstream-UDA.

Während die Kontrahenten auf dem Rasen bravourös fighten, wetteifern gleichfalls die Anhänger beider Lager auf den Tribünen. Auf ihre Art. Die kleine Gruppe von Larne-Fans auf der Haupttribüne schwenkt weiß-rote nordirische Flaggen, ein Symbol des Loyalismus. Auch ­Union Jacks waren zu sehen. Katholiken verwenden hingegen gelb-rote Flaggen der Provinz Ulster oder die irische Triko­lore. Mehr noch, Palästina-Flaggen, Banner mit Che-Motiv und mit irisch-republikanischen Slogans wehen im Wind. Und unter den Zuschauern befinden sich einige ehemalige IRA-Gefangene, die ich vormals kennengelernt habe.

Als Hale für Cliftonville einnetzt und das hitzige Duell entscheidet, singt die Meute: »But when men claim Ireland’s Freedom, the one should choose to lead them will wear the broad black brimmer of the IRA« – ein irisches Rebellenlied, das Art McMillan über den Unabhängigkeitskrieg geschrieben hatte. Politische Botschaften, die in Nordirland als »sektiererisch« gelten und von der IFA verboten sind.

Das benachteiligte Arbeiterviertel, in dem der Windsor Park liegt, nur wenige Minuten von Belfasts Innenstadt entfernt, ist streng loyalistisch. Das Gebiet wird »­Village« genannt, wo paramilitärische Wandmalereien der UDA und ihrer loyalistischen Rivalen, der Ulster Volunteer Force (UVF), Kabelwände schmücken. Das Viertel ist durch die Autobahn M1 von der katholischen, bekannten Falls Road getrennt.

Im Gegensatz zur offenen Unterstützung für Che Guevara und Palästina auf der Nordtribüne und der katholischen Falls Road auf der anderen Seite der M1 sind die Straßen des Village entlang der Süd- und Ostseite von Windsor Park von israelischen Flaggen und denen der paramilitärischen UVF gesäumt. Nicht nur das, es dominieren ferner violette Flaggen mit einer orangefarbenen Linie von einer Ecke zur anderen. Ein Design mit Wiedererkennungswert, es ist das des Auswärtstrikots von Linfield. Übrigens nicht die einzige Referenz an den loyalistischen Paramilitarismus des größten Klubs Nordirlands. Linfield traf am Abend zuvor im ersten Pokalhalbfinale auf Glentoran FC. Glentoran und Linfield sind die beiden bedeutendsten Mannschaften Belfasts. Das erste Aufeinandertreffen liegt lange, lange zurück: Am 1. Oktober 1887 war das. Ein Derby mit viel Tradition also. Und das erste »Big Two Derby« ging mit 3:1 an Linfield.

Überraschend war das nicht. ­Glentoran hatte eine schwierige Saison hinter sich, hoffte aber auf eine Sensation im gut besetzten Oval. Vor 5.600 Zuschauern dominierte aber Linfield von Anfang an. Dennoch war die Menge deutlich ruhiger als einen Tag später beim Match von Cliftonville gegen Larne – dafür sektiererischer. An den Stadionzäunen waren zahlreiche Banner mit Parolen, etwa rassistischen. Von der ersten Minute an machte ein Teil der Glentoran-Anhänger auf der Haupttribüne hinter mir ihren Hass auf »Taigs«, eine rassistische Beleidigung für Katholiken, akustisch durch Rufe deutlich.

Die Linfield-Anhänger auf der Westtribüne blieben ruhig. Erst in der 52. Minute nach Kyle McCleans zweitem Tor zogen sie nach: »We are the Billy Boys. Hello, Hello. You’ll know us by our noise. We’re up to our knees in Fenian blood. Surrender, or you’ll die.« »Fenian« ist der Name der geheimen Irish Republican Brotherhood im 19. Jahrhundert und wurde zur Beschreibung irischer Republikaner verwendet.

Antiirische Chöre

Je länger das Spiel dauerte und je mehr Linfield dominierte, desto häufiger konnte ich das Lied »The Famine is Over« aus einer Menge von rund drei Dutzend schwarz gekleideten Jugendlichen hören. Es ist ein antiirisches Lied, das bei schottischen Fußballfans und Ulster-Loyalisten beliebt ist. Es entstand Mitte der 2000er Jahre in Schottland und wurde von Anhängern des Glasgow Rangers Football Club geschrieben, um dessen Rivalen Celtic zu provozieren. Es wird zur Melodie von »Sloop John B« der Beach Boys gesungen und bezieht sich auf die Hungersnot in Irland in den 1840er Jahren, während der Tausende darbender Iren nach Schottland auswanderten, von denen einige später Celtic Glasgow gründeten.

Auch 25 Jahre nach dem Krieg ist es UEFA und FIFA nicht gelungen, den Fußball in Belfast zu einen. Fans und Teams sind nach wie vor konfessionell und religiös gespalten. Die Feier des protestantischen Sieges von König Wilhelm III. über seinen katholischen Amtskollegen in der Schlacht am Boyne im Jahr 1690 ist schließlich wichtiger als jedes Fußballspiel. Denn dort wateten Billys Jungs durch Fenian-Blut, wie die jugendlichen Linfield-Fans immer wieder sangen.

Was bleibt, das Endspielergebnis des Irish-Cups nachzutragen. Cliftonville behielt die Oberhand, rang Linfield in der Verlängerung nieder: 3:1.

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