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Aus: Thälmann, Beilage der jW vom 14.08.2024
Thälmann

Die eigene Geschichte

Ein Parteiführer in den Konflikten seiner Zeit: Überlegungen zu Ernst Thälmann
Von Stefan Bollinger
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Plakat der KPD

Ein unauffälliger Stolperstein in der Nähe des Hamburger Rathauses. Ein bronzener Koloss im Berliner Thälmann-Park, regelmäßig beschmiert, immer wieder gereinigt, immer wieder politisch attackiert. Und fern von Deutschland eine Sieben-Quadratkilometer-Insel in der Karibik: Cayo Ernest Thaelmann. Orte der Erinnerung an den vor 80 Jahren ermordeten KPD-Vorsitzenden. Ermordet, weil auf Nazideutschlands Niederlage keine neue Revolution folgen sollte – die führenden Kader der Arbeiterbewegung wurden mit Blick auf die Nachkriegszeit beseitigt.

Der Faschismus wurde schließlich von außen, durch die Rote Armee, die Antihitlerkoalition zerschlagen. Im Ostteil des besetzten und gespalteten Landes kamen Kommunisten und linke Sozialdemokraten an die Macht. Sie bauten mit Mühen unter Moskaus wachsamen Augen tatsächlich eine sich als sozialistisch verstehende Gesellschaft auf. Thälmann war tot, aber als Vorbild, Held des Kampfes gegen Krieg und Faschismus war er unabdingbar. Seine Büsten und Bilder überall, fast jeder Heranwachsende war Thälmann-Pionier, so »treu und kühn« wie der Arbeiter aus Hamburg, der im November 1930 erklärt hatte: »Die Hunderttausende von Obdachlosen in Deutschland, die Millionen kinderreichen Proletarierfamilien, die in ungesunden Wohnhöhlen zusammengepfercht hausen müssen, während die Kapitalisten Luxuswohnungen, Villen und Paläste bewohnen, sehen, dass der Sieg der proletarischen Revolution ihnen mit einem Schlage menschenwürdige Lebensverhältnisse bringen wird.«

Die SED, ihre Journalisten und Historiker unternahmen viel, um Thälmann als heldenhaften Vorkämpfer ohne Furcht und Tadel zu konstruieren. Erinnerungsbände, seine Schriften, Kinderbücher, Filme und eine umfangreiche wissenschaftliche Biographie zeichneten sein Bild als geradlinig und nicht irrend. Die Mühe, »Teddy« ausschließlich im allerbesten Lichte erscheinen zu lassen, hätten sie sich sparen können: Er war ohne Zweifel beliebt und volkstümlich, und daran hätte auch eine offene Debatte über Schwächen und Fehler nichts geändert.

Da das unterblieb, wurde dieses Material mit der »Wende« zur Munition. Ein Ex-DDR-Journalist wollte die »Legende Thälmann« sterben lassen, bürgerbewegte Historiker drängten auf »Abrechnung«. Kollegen aus dem Westen sinnierten über den »Parteisoldaten«, der auf »undemokratischem Wege« seine Revolution wollte. Klaus Schroeder, langjähriger Chef des »Forschungsverbundes SED-Staat« an der Freien Universität, deklamierte 2012: »Thälmann war in seinem politischen Wirken in erster Linie nicht Antifaschist, sondern Antidemokrat.« Und man könne »nur fordern, den Namen ›Thälmann‹ aus dem Straßenbild deutscher Städte und Gemeinden zu tilgen«. Außensichten waren oft differenzierter.

Es ist schwierig, über Geschichte zu urteilen, wenn bereits die Gegenwart nicht kritisch hinterfragt wird. So ist »Weimar« heute ein Heiligtum. Dabei war diese Republik das Resultat eines die Linken dezimierenden Bürgerkriegs und der restaurierten Macht der alten Eliten in Staat wie Wirtschaft, die in der nächsten Krise ab 1929 sukzessive zur Diktatur griff. Immer dabei die SPD, die alsbald lieber von den »Kozis« sprach, wenn sie die KPD meinte und mit den Nazis gleichsetzen wollte. Diese »Demokratie« wäre also zu hinterfragen.

Man muss bei der Bewertung der Literatur zu – und oft gegen – Thälmann einige Sachen auseinanderhalten. Berechtigt ist die Ablehnung einer vereinfachten, idealisierenden, von Parteiinteresse geprägten Geschichtsschreibung und -politik. Daran ist wenig zu rütteln, obschon diese auch zu Grundeinschätzungen des Kampfes der Kommunisten, des Scheiterns einer linken Einheitsfront und des »betreuten« Vormarsches der Faschisten kam, die nicht falsch sind.

Unstreitig war die Formel vom »Sozialfaschismus« unheilvoll. Die Sozialdemokratie avancierte so zum Hauptfeind, was angesichts der Erfahrungen von 1914 bis 1929 nicht völlig überraschend ist. Dass dabei auch gemeinsame Kämpfe mit linken Sozialdemokraten negiert wurden, gehört zu den Fehlern von Thälmann, KPD und Kommunistischer Internationale. Ebenso wie der verhängnisvolle Bruch mit jenen Genossen, die weiterdachten.

Carl von Ossietzkys Überlegungen am Vorabend der Reichspräsidentenwahl von 1932 zeigen, was möglich gewesen wäre. Eine »Stimme für Thälmann bedeutet kein Vertrauensvotum für die Kommunistische Partei«, schrieb er. Aber »Linkspolitik heißt, die Kraft dort einsetzen, wo ein Mann der Linken im Kampfe steht. Thälmann ist der einzige, alles andre ist mehr oder weniger nuancierte Reaktion. Das erleichtert die Wahl.« Je besser Thälmann abschneide, »desto deutlicher wird demonstriert, welch einen Erfolg eine sozialistische Einheitskandidatur hätte haben können«. Und auf diese Lektion »kommt es an«. Diese Lektion aber wurde bis 1933 nicht gelernt.

In der Diskussion über Thälmann geht es schließlich indirekt auch um das Selbstverständnis radikaler linker Politik gegen Krieg und die Macht der kapitalistischen Eliten. Hier zeigt sich bei der heutigen Linken und ihren wenigen Historikern ein Ausblenden historischer Erfahrungen und ein Überbewerten parlamentarischer Reformpolitik. Dass Thälmann und die KPD solche Strategien ablehnten, macht sie eher nicht zu Bezugspunkten.

Thälmann und seine Partei erkannten zu spät die nicht nur abstrakte, sondern reale Gefahr der Machtübergabe an die Faschisten, ihrer raschen Stabilisierung und das damit einhergehende Terrorpotential. In seiner Ziegenhalser Rede konstatierte Thälmann gleichwohl richtig, dass der bevorstehende Kampf »der schwerste (ist), den die Partei zu bestehen hat«. Am Vorabend der Reichstagswahl setzt er auf den Sturz der Hitler-Papen-Regierung, der aber nicht gleichbedeutend mit der Revolution sei. Die Einheitsfront sollte es richten, vor allem aber der zähe Widerstand von Partei und Arbeitern. Thälmann richtet sich nach seiner Verhaftung in der Gefangenschaft ein, blieb hart und ahnte wohl sein Schicksal als einer jener »Kommunisten, die nur Tote auf Urlaub« sind. Seine Briefe an Stalin bleiben unbeantwortet. Nur: Nicht Stalin hat Thälmann umgebracht, sondern Hitler und seine Schergen.

Thälmann als Mensch und Politiker, als sicher unvollkommener Kämpfer gegen den Faschismus, diesen Thälmann darf sich eine Linke, die zu ihrer komplizierten Geschichte steht, nicht nehmen lassen. Auch hier gilt jener Satz von Karl Marx, der auch zur nüchternen Bewertung einer historischen Gestalt herangezogen werden muss: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.«

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