Aufbruch des globalen Südens
Von John P. NeelsenMit der Implosion der Sowjetunion und Auflösung des Warschauer Paktes Anfang der 1990er Jahre schien eine neue Zeit anzubrechen. Systemkonflikt, Bipolarität und Hochrüstung gehörten der Vergangenheit an; den zentralen Menschheitsproblemen von Frieden, Umwelt, Unterwicklung und Ungleichheit wollte man sich annehmen. Die herrschenden Eliten im Westen, insbesondere den USA, sahen sich jedoch als Sieger, bestimmt zur dauerhaften geopolitischen Hegemonie. Die weltweite Übernahme neoliberaler marktwirtschaftlicher Prinzipien versprach diesem Ziel zunächst ökonomischen, dann politischen Erfolg. Führte die freie Marktwirtschaft – so die Überzeugung – doch am Ende systemisch notwendig zu bürgerlichen Demokratie, die sich zudem als Juniorpartner in das kapitalistische Weltsystem eingliedern würden.
Es waren Illusionen: Die neoliberale Globalisierung zog eine Dominanz des monopolistischen Finanzkapitals nach sich, die mit erhöhtem Krisenpotential und verschärfter nationaler wie internationaler Ungleichheit bei Herausbildung einer kosmopolitischen Klasse – jedoch ohne Auflösung des Nationalstaats – einherging. Von Deindustrialisierung in den kapitalistischen Metropolen begleitet, haben ausländische Kapitalinvestitionen und internationale Wertschöpfungsketten entscheidend zum wirtschaftlichen Aufstieg der Schwellenländer des globalen Südens, vor allem Chinas, später Indiens, beigetragen.
Periode der Unsicherheit
Verschärft durch kostspielige militärische Interventionen haben sich die geopolitischen Kräfteverhältnisse zu Lasten US-amerikanischer Unipolarität zu einem multipolaren System zu ändern begonnen. Gleichzeitig verlagert sich das Gravitationszentrum vom Atlantik zum Indopazifik und damit die Hauptkonfliktachse von Ost-West nach Nord-Süd. Eine historische Zäsur: Der Anfang vom Ende der 500jährigen, auf (Neo-)Kolonialismus und Zerstörung, Rassismus und Ausbeutung gegründeten westlichen Vorherrschaft. Unmittelbar betrifft das die vom Westen dominierte Nachkriegsordnung, ihre Institutionen und Funktionsweise. Dabei sind die Konturen einer Neuordnung bzw. alternative Institutionen erst in Ansätzen erkennbar. Eine Periode der Ungewissheit und Unsicherheit, vermehrter Risiken und Konflikte hat begonnen, die durch Atomwaffen sowie umweltzerstörerische Produktions- und Lebensweisen weiter verschärft wird. Denn die USA und der Westen sind nicht bereit, ihren Niedergang kampflos hinzunehmen. Im Gegenteil. Geschart um ihre Führungsmacht versuchen sie mit buchstäblich allen, auch kriegerischen Mitteln, dies zu verhindern.
Der kollektive Westen (d. h. im Kern die 1,2 Milliarden Menschen in Nordamerika, Westeuropa, Japan, Australien und Neuseeland) repräsentiert im globalen Vergleich nach wie vor eine privilegierte Minderheit von knapp 15 Prozent der Weltbevölkerung (8,2 Milliarden Menschen). Gleichwohl ist der Anteil seiner sieben größten Industrieländer (G7) am Weltsozialprodukt von 66 Prozent im Jahr 1990 auf 43 Prozent im Jahr 2023 gesunken, nach Kaufkraft gar unter 30 Prozent, mit der Folge von Bedeutungs- und Einflussverlust. Demgegenüber stieg allein Chinas Anteil von zwei Prozent auf mit der EU vergleichbare 17 Prozent. Zusammen haben die BRICS vor ihrer Expansion, d. h. Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, 45 Prozent der Weltbevölkerung, 35 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung vertreten sowie 25 Prozent aller Ausfuhren, die weniger zwischen Nord-Süd als innerhalb des Südens getätigt werden. Dies ist erst der Anfang. Angesichts weit höherer Wachstumsraten sowie der jüngsten Aufnahme Ägyptens und Äthiopiens, zudem der Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabiens und des Iran mit ihren reichen Energievorkommen haben die erweiterten BRICS plus weiter an geopolitischer und geoökonomischer Bedeutung gewonnen.
Antiwestlicher Game-Changer
Deswegen fordern die BRICS plus eine Revision der internationalen Organisationen: UNO-Sicherheitsrat, Internationaler Währungsfonds und Weltbank sollen demokratisiert, in ihrer Zusammensetzung repräsentativer werden. Alternativ zu deren Funktionsweise entsprechend Stockholder-Prinzip und neoliberaler Strukturanpassung wird in der New Development Bank und dem Contingency Reserve Arrangement der BRICS plus eine egalitäre, nationale Souveränität respektierende »Win-Win-Konzeption« internationaler Beziehungen praktiziert. Sie werden entsprechend UN-Charta und Völkerrecht als oberster Richtschnur durch Nichtintervention, Selbstbestimmungsrecht, Anerkennung kultureller Verschiedenheit, friedliche Koexistenz und Konfliktregelung ergänzt. Blockbildung und Verteidigungsallianzen werden wegen ihres inhärent konfrontativen Charakters abgelehnt, Plattformen privilegiert. Diese erlauben trotz ausgeprägter Heterogenität und interner konfliktueller Beziehungen, wie zum Beispiel zwischen Indien und China, die Bündelung gemeinsamer, von (Neo-)Kolonialismus, Intervention und Machtmissbrauch geprägter Interessen. Eine Zukunft gemeinsamer nachhaltiger Entwicklung in einer multipolaren multikulturellen Ordnung bestimmen Weg und Ziel.
Der Westen mit weltweiten Militärbündnissen und universalistischem Vorbildanspruch als »Vorkämpfer von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten« ist herausgefordert. Seine »regelbasierte Ordnung« bedeutet nicht völkerrechtkonform; Menschenrechte sind mehr als individuelle Freiheitsrechte, bürgerliche Demokratie ist selbst eine Form von Herrschaft, die zudem krisenanfällig und wegen ihrer globalen Problemlösungsfähigkeit fragwürdig ist. Die westliche Politik ist weniger von Werten als von partikularen Machtinteressen – häufig unter Missachtung des Völkerrechts – geleitet, wie die Interventionen in Jugoslawien, Irak oder Libyen illustrieren.
Die aktuellen Konflikte in der Ukraine und insbesondere Gaza erwiesen sich wegen ihrer einseitigen, dazu militärischen Parteinahme als antiwestliche »Game-Changer«. Angeheizt durch die Politik des wirtschaftlichen Derisking, illegaler Sanktionen und Instrumentalisierung des Dollars wurde eine Frontbildung der »autoritären Regimes« mit De-Dollarisierung im bilateralen Handel durch den Westen beschleunigt. Die BRICS und die Shanghai Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) mit Russland, China und Indien im Zentrum wurden u. a. um den Iran erweitert; Dutzende weiterer Kandidaten des globalen Südens haben Mitgliedsanträge gestellt.
Das Zeitfenster dauerhaft umfassender Vorherrschaft schließt sich. Bleibt die Strategie militärischer Überlegenheit. Auf sie und konfrontative Blockbildung setzen die USA und ihre Vasallen im kollektiven Westen. Die NATO, nunmehr auch zum Pazifik ausgerichtet, führt mit 55 Prozent (SIPRI), wenn nicht gar 74 Prozent (Tricontinental Institute for Social Research), die weltweit explodierenden unproduktiven Militärausgaben an – auf Kosten von Kooperation, Umweltschutz und nachhaltiger Entwicklung. Ob langfristig erfolgreich, ist zweifelhaft, auf keinen Fall wünschenswert.
Prof. Dr. John P. Neelsen ist ehemaliger Hochschullehrer am Institut für Soziologie der Universität Tübingen und Vertrauensdozent der Rosa-Luxemburg Stiftung. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Politische Ökonomie, Entwicklungssoziologie und Nord-Süd-Beziehungen
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