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Aus: Krieg und Frieden, Beilage der jW vom 28.08.2024
Multipolare Weltordnung

Eine neue Stimmung

Westliche Führungsmächte halten an Unipolarität fest. Verlagerung des ökonomischen Gravitationszentrums schuf in Asien neues Selbstvertrauen
Von Vijay Prashad
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Hoffen auf Frieden: Palästinenser arbeitet an einem Wandgemälde vor dem Beginn des muslimischen Eid-Al-Adha-Festes im Flüchtlingscamp Shati (Gaza-Stadt, 26.6.2023)

Als die Sowjetunion zusammenbrach, beschlossen die Führer der Vereinigten Staaten, dass dies ein guter Zeitpunkt sei, um ihre weltweite Vorherrschaft zu errichten. Die meisten Länder des globalen Südens – die bereits unter der Last der Schuldenkrise der sogenannten dritten Welt litten – hatten nicht die Kraft, sich der neuen Vision der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten entgegenzustellen. Die USA bezeichneten die wenigen Länder, die Washingtons Hegemonie nicht akzeptierten – wie Kuba, Iran und Nordkorea – als »Schurkenstaaten« und setzten jedes Instrument in ihrem Arsenal ein, einschließlich unilateraler Sanktionen, um deren Ungehorsam zu verhindern.

Noch bevor die UdSSR vollständig zusammengebrochen war, formulierten die USA ihre Antwort auf diese neue Weltordnung: Krieg gegen Panama (1989) und Irak (1991); diese Kriegssituation eskalierte in den 1990er Jahren. Gleichzeitig trieben die USA über die neu gegründete Welthandelsorganisation (WTO, 1994) eine Agenda voran, um die gesamte Welt in das vom US-Finanzministerium und den multinationalen Konzernen entwickelte Wirtschaftssystem einzubinden. Dies war das Arsenal der Unipolarität, mit den Vereinigten Staaten im Zentrum des Systems. Die Geschichte war zu Ende, und die USA waren ihr Endprodukt.

Neue Formen des Widerstands

Aber nichts funktioniert so. Durch die Globalisierung waren Länder in aller Welt gezwungen, Austeritätsprogramme zu entwickeln, die tiefe Einschnitte in die staatlichen Ausgaben für Gesundheit und Bildung sowie für den öffentlichen Nahverkehr bedeuteten. Eine Reihe von »IWF-Aufständen« brach aus, vor allem im globalen Süden, wobei der kraftvollste 1989 in Caracas, Venezuela, stattfand – der »Caracazo«. Die Völker der Welt – verunsichert durch den Zusammenbruch der UdSSR und das Aufkommen der unipolaren Haltung der Vereinigten Staaten – entwickelten neue Formen des Widerstands, mit großen Mobilisierungen und gewalttätigen Aufständen, die sich auf allen Kontinenten entfalteten. Diese Rebellionen, die in den 1990er und 2000er Jahren stattfanden, wurden als Antiglobalisierungsproteste bezeichnet. Aber sie waren nicht wirklich gegen die Globalisierung gerichtet, sondern gegen die Unipolarität. Niemand wollte den Herren in Washington gehorsam sein.

Es war schwer, die Entstehung einer alternativen Agenda vorherzusehen. Der Wahlsieg von Hugo Chávez im Jahr 1998 und sein bemerkenswerter Vorstoß für eine Bolivarische Revolution in Venezuela ließ die ganze Welt erzittern. Alle fragten sich: Wo ist der arabische Chávez, der indische Chávez oder der afrikanische Chávez? Könnten wir alle in der Lage sein, eine ähnliche Agenda voranzutreiben wie die, die den Menschen in Lateinamerika vorgelegt wurde? Diese neue bolivarische Agenda brachte eine neue Hoffnung, weshalb Chávez im globalen Süden so schnell geliebt wurde. Sein revolutionärer Optimismus brachte Hoffnung in Gegenden, die sich von der Welt verlassen fühlten. Gegenden, die schon als »Opferzonen« galten, die den Göttern des Kapitals geopfert worden waren. Und dann kommt dieser Mann aus dem globalen Süden, ein Mann mit Vorfahren unter den Indigenen Amerikas und den Afrikanern, die als Sklaven nach Amerika kamen, ein Mann – so hieß es – wie wir. Wenn er es kann, können wir es auch.

Die Auswirkungen von Chávez und der Bolivarischen Revolution waren immens, aber sie konnten allein nichts bewegen, weil die materiellen Voraussetzungen für eine Verschiebung der Machtverhältnisse einfach noch nicht gegeben waren. Die Finanzkrise von 2007 und die anschließende dritte große Depression, in der wir uns nach wie vor befinden, sowie die Niederlagen der USA in Afghanistan und im Irak haben gezeigt, dass die USA nicht unfehlbar sind. Sie haben sogar die Zerbrechlichkeit der US-Macht gezeigt.

Gleichzeitig hat der Export von Produktionskapazitäten im Zuge der Globalisierung vor allem in Asien Regionen mit sehr hohen Wachstumsraten geschaffen, allen voran China. Als sich das Gravitationszentrum der Weltwirtschaft aus dem Atlantikraum nach Asien verlagerte, entstand in den größeren Ländern des globalen Südens neues Selbstvertrauen. Es war dieses Selbstvertrauen und das Versagen des Westens, die Situation der großen Depression in den Griff zu bekommen, das fünf große Länder 2009 dazu veranlasste, den BRICS-Block (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) zu bilden. Die Bildung der BRICS und die Schaffung von Chinas Belt-and-Road-Initiative im Jahr 2013 bildeten die materielle Grundlage für die Beendigung des US-Anspruchs auf Unipolarität.

Eine echte globale Demokratie

Aus dieser neuen Situation heraus entwickelte sich im globalen Süden eine neue Stimmung. Die Länder des Südens wollten nicht länger glauben, dass sie dem Norden untertan sein müssen. Sie wollten ihre eigenen nationalen Interessen durchsetzen und ihre eigenen Programme für ihre Bevölkerung entwickeln. Diese neue Stimmung ist Ausgangslage der Situation, mit der wir heute konfrontiert sind. Es handelt sich nicht um eine multipolare Welt, sondern um eine Welt, in der der globale Süden die unipolaren Ansprüche der USA ablehnt und etwas Neues aufbauen will.

Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten (Europa als Schlüsselfigur) sind nicht in der Lage, diese neue Stimmung zu verstehen. Sie glauben, dass ihr Monopol auf militärische Gewalt (auf sie entfallen 75 Prozent der jährlichen weltweiten Militärausgaben) ausreichen wird, um die Regierungen des Südens in die Schranken zu weisen. Es ist dieses Vertrauen in militärische Gewalt, das eine enorm gefährliche Situation in der Welt geschaffen hat, insbesondere der neue kalte Krieg gegen China und die Weigerung des Westens, Friedensverhandlungen um die Ukraine zuzulassen. Das Unvermögen, die neue Stimmung im Süden zu verstehen, führt zu einer dekadenten Sensibilität im Norden, wo die Führungsspitzen einfach nicht begreifen können, dass die alten kolonialen Gewohnheiten nicht länger toleriert werden und dass ihr Glaube an die Unipolarität einfach nicht akzeptiert werden kann.

Die Welt will eine echte globale Demokratie. Die neue Stimmung wird den alten Wein des Kolonialismus in den neuen Flaschen der Sicherheit und der Menschenrechte nicht dulden. Die Lehren aus den alten Hauptstädten des Kolonialismus sind abgestanden. Die atlantische Welt muss begreifen, dass sie nur ein Siebtel der Weltbevölkerung ausmacht. Sechs von sieben Menschen leben anderswo und wollen an der Gestaltung der Weltordnung teilhaben. Ihr Verlangen ist die neue Stimmung.

Vijay Prashad ist Historiker und Journalist. Er leitet das Tricontinental-Institut für Sozialforschung und veröffentlichte zuletzt den Band »On Cuba« mit dem Linguisten Noam Chomsky sowie unter anderem »Washington Bullets: A History of the CIA, Coups and Assassinations« und »Red Star Over the Third World«

Übersetzung aus dem Englischen: Marc Bebenroth

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