Schöne Aussichten
Von Barbara Eder, WienDer Goethehof liegt im 22. Wiener Gemeindebezirk. Nach rund zwei Jahren Bauzeit 1932 eröffnet, zählte er zu den ersten »Superblocks« des Roten Wien. Mit 677 Wohneinheiten bietet der Gemeindebau den Mietern bis heute ein leistbares Zuhause, während der Februarkämpfe des Jahres 1934 fungierte er als wehrhafte Bastion des antifaschistischen Widerstands. An der Südseite der Wohnhausanlage mit einer Nutzfläche von insgesamt 44.475 Quadratmetern liegt das Kaiserwasser – ein Seitenarm der Alten Donau, der im Sommer zum Schwimmen einlädt. Die Distanz zum gegenüberliegenden Ufer beträgt nur rund 200 Meter – und doch beginnt dort eine andere Welt. »Dort drüben liegt die Zukunft«, meinen viele Bewohner des Goethehofs, besonders die Jüngeren unter ihnen. Der Kontrast zwischen hier und dort könnte nicht größer sein.
Was am anderen Ufer zählt, ist nicht kommunales Wohnen, sondern zur Schau gestelltes Eigentum. Die Glorit Bausysteme GmbH hat dort mehrstöckige Penthäuser mit großzügigen Terrassenanlagen und Glasfassaden errichtet, an der Außenseite prangt ein goldenes »G«. Seither mehren sich die Häuser mit dem Glorit-Insignium in der Wiener Peripherie. Viele davon liegen unweit der Neuen und der Alten Donau, ufernah und mit Blick auf das Wasser. »Besonders schön lebt es sich im Freizeitparadies« – so lautet einer der Slogans, mit dem Glorit die hochpreisigen Immobilien bewirbt. Das Unternehmen mit Firmensitz in Großenzersdorf richtet sich damit vor allem an kaufkräftige »Internationals« mit Arbeitsplatz im Vienna International Center; die »UNO-City« liegt vom Donauufer nur wenige U-Bahn-Stationen entfernt.
»Zentrumsnah, mit direktem Blick auf die Alte Donau und die moderne Skyline von Wien – das ist Wohnen mit bester Aussicht«, verspricht Glorit in einer weiteren Werbeanzeige. Trotz peripherer Lage soll die umworbene Klientel sich im Zentrum wähnen: Die Alte Donau gilt ihnen schon jetzt als neuer Nabel. Am Ufer tränkten zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts Fuhrwerkerinnen und Fiaker ihre Pferde, Kühe weideten inmitten des ehemaligen Überschwemmungsgebiets. Obdachlose und Arme, die sich den »wilden Siedlern« angeschlossen hatten, errichteten hier ihre provisorischen Wohnstätten. Notquartiere dieser Art entstanden auch im benachbarten »Brettldorf« und am »Bruckhaufen«. Ohne offizielle Genehmigung baute man sich in den vormaligen »Favelas von Wien« seine Unterkünfte – Hütten aus Lehm, Holz und Pappe, regellos nebeneinander gereiht und vom Ufergrün umsäumt. Die Siedler lebten von Kohl- und Krautköpfen, Feldfrüchten oder den Erträgen aus Schrebergärten. Ihre Hütten hatten eigenwillige Inschriften und bildeten oft die letzte Sicherheitszone vor der harten, ökonomischen Realität: »Klein, aber mein«, »Eigener Herd« und »Villa am Strande«.
Die transdanubischen Bezirke gehören erst seit Beginn des vergangenen Jahrhunderts zu Wien, die Donaustadt war aus einer Teilung Floridsdorfs hervorgegangen. Letzterer Bezirk konnte früh vom sozialen Wohnbau profitieren, er galt als rote Festung jenseits der Donau. Neben dem Paul-Speiser- und dem Franz-Bretschneider-Hof befindet sich unweit des Zentrums auch der mit seinen runden Bögen und dem mit Kupferblech überzogenen Uhrturm nahezu pittoresk anmutende Schlingerhof, der zu einem weiteren Zentrum der Februaraufstände wurde. Seither ist Floridsdorf eine Wohnstätte für Geringverdiener geblieben, zwischen den Gemeindebauten blitzen vereinzelt Einfamilienhäuser auf – und ebenso Werbetafeln für noch unfertige Eigentumswohnungen. Die Nachkommen der »wilden Siedler« könnten hier schon bald zum »Gentrifizierungshindernis« werden. Was sich der schönen Aussicht entgegenstemmt, stört das Stadtbild.
Die Siedlung »Rehlacke« in der Wiener Donaustadt ist gegen Ende des Ersten Weltkriegs als Kleingartensiedlung zur Selbstversorgung entstanden. Infolge der akuten Wohnungsnot bauten ihre späteren Bewohner einfache Hütten in ungenutztem Gebiet. Arno Aigner, Gründer einer lokalen Bürgerinitiative, lebt hier in einem kleinen Haus, die Glorit-Bauten in der Umgebung überragen es um ein Vielfaches. Laut Bestimmungen der Wiener Bauordnung müssten viele der Neubauprojekte ein reduziertes Erscheinungsbild haben. Die zuständige Magistratsabteilung lässt in diesem Fall offenbar andere Gesetze gelten.
Arno Aigner hat früh festgestellt, dass die voluminösen Wohnanlagen in seiner Umgebung die Bebauungs- und Flächenwidmungsbestimmungen nicht erfüllen – es wird zu hoch, zu breit, zu nahe am Nachbargrund oder auf Grundstücksbereichen gebaut, die gesetzlich nicht dafür vorgesehen sind. Er monierte dies auch bei den städtischen Baubehörden. Seither ist er davon überzeugt, dass die Magistratsabteilung dem Immobilienhai aus Großenzersdorf gezielt in die Hände spielt. »Auch der Bezirksvorsteher der Donaustadt unterstützt so manche bauliche Rechtswidrigkeit«, meint Aigner. Andernfalls wäre es nicht möglich gewesen, Baugenehmigungen für einige der überdimensionierten Projekte zu bekommen. Aigner setzt sich auch für die Einhaltung des Flächenwidmungsplans der Stadt Wien ein. In ausgewiesenem Grünland und auf dezidiertem Erholungsgebiet dürfen keine baurechtswidrigen Projekte realisiert werden – seit Mai 2020 befindet sich auf einer dieser Flächen jedoch ein Strandcafé mit Sitzplätzen für rund 850 zahlende Gäste.
Ein Großteil der Liegenschaften in der Siedlung, so auch jene des Strandcafés, gehört dem Stift Klosterneuburg. Abgesehen von einigen wenigen Gründen am Donauufer, die noch im Besitz der Stadt Wien sind, ist die Immobilienverwaltung des vermeintlichen Armutsordens der Eigentümer. Dies beruht auf Schenkungen von ehemaligen Auen, die erst mit der Donauregulierung an Wert gewannen. Heute unternimmt der Bauträger Glorit vieles, um an die begehrten Gründe zu gelangen – in Konformität mit dem Stift Klosterneuburg. Die Dominanz des Bauträgers in der Region spräche für sich, meint Arno Aigner. Ein betagter Bewohner aus einer der Nachbarsiedlungen habe dem Druck abendlicher Maklerbesuche und den gegen ihn gerichteten Androhungen am Ende nicht mehr standhalten können und Selbstmord begangen, sagt er im Gespräch mit junge Welt.
In seinem 1923 in der Wiener Sonn- und Montagszeitung erschienen Text »Riviera in Kagran« sprach Joseph Roth von der »ausgleichende(n) Gerechtigkeit des Wassers«. Die Statusmarkierungen beginnen erst am anderen Ufer – mit dem Abzeichen am Revers, der Rolex am Handgelenk oder dem Haus von Glorit.
Anders als die zumeist auf 99 Jahre abgeschlossenen Baurechtsverträge mit anderen Entwicklern sehen die von der Immobilienverwaltung des Stifts Klosterneuburg an Altpächter vergebenen Verträge kurze Laufzeiten vor. Die Eintragung ins Grundbuch ist ebenso wenig vorgesehen wie das Recht auf Weitergabe oder Vererbung ohne Einfluss des Grundstücksbesitzers. Investoren haben im Fall des Ablebens eines Pächters meist ein leichtes Spiel. Der Pressesprecher der Immobilienverwaltung des Stifts, Walter Hanzmann, bestreitet in Reaktion auf eine E-Mail-Anfrage die »Verpachtung zum Zwecke der Errichtung von Wohngebäuden« – dahingehend spiele man nur eine »Nebenrolle«. Wobei: »Es kann natürlich auch umgekehrt sein, dass diese Dritte und Bauträger die Superädifikatseigentümer direkt kontaktieren.« Am Gartenzaun eines Grundstücks mit der Adresse An der Alten Donau 55 hing noch vor wenigen Jahren ein unübersehbar großes Schild: »Baugrund zu verkaufen?«, daneben das goldene »G« von Glorit. Heute steht auch dort ein Penthaus im Kajütenstil.
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