»Einsam und unnütz«
Von Yaro AllisatFrancis (Name geändert) steht an einer Straßenbahnhaltestelle so weit im Osten von Leipzig, dass es weniger nach Stadt als nach Gewerbegebiet aussieht. Um den Hals trägt er einen grob gestrickten Schal, in den er die Nase vergräbt. Von der Haltestelle aus sieht man den riesigen Komplex, in dem die Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BaMF) residiert. In der verglasten Fassade spiegeln sich graue Wolken und Asphalt. Fast zwei Stunden hat er beim BaMF gewartet, um dann einer Sachbearbeiterin über dreieinhalb Stunden lang erzählen zu müssen, wie und warum er aus dem Niger nach Deutschland kam. »Ich weiß nicht, was ich in diesem kalten Land mache«, sagt er fast tonlos. Ich muss schlucken.
Im April kam Francis, wie mehr als 35.000 Menschen in diesem Jahr, auf dem Seeweg von Libyen nach Italien. Nicht alle Asylsuchenden schaffen diese Reise, denn die EU schließt vermehrt Migrationsdeals nach dem Motto: EU zahlt, Drittstaaten hindern Migranten an der Weiterreise und nehmen Abgeschobene auf. Unter anderem mit Tunesien, der Türkei, Marokko, Mauretanien und Ägypten bestehen solche Deals bereits. Beim EU-Gipfel der Staatschefs im Oktober wurde zudem die Durchführung von Asylprozeduren in Drittstaaten ins Visier genommen.
In Deutschland und der EU sprechen Geflüchtetenverbände bereits zum dritten Mal innerhalb von 30 Jahren von einer faktischen Abschaffung des Rechts auf Asyl: 1993 vereinbarten CDU und SPD den sogenannten Asylkompromiss, eine Grundgesetzänderung laut der Menschen, die über sichere Drittstaaten kommen, kein Recht auf Asyl haben. Im März 2016 wurde der berüchtigte EU-Türkei-Deal abgeschlossen, Vorbild für die vielen weiteren Abkommen. Im Mai dieses Jahres stimmte der EU-Rat schließlich der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) zu.
Die Reform, die 2026 in Kraft tritt, setzt darauf, Menschen mit allen Mitteln von der EU fernzuhalten. Sie sieht massenhafte Unterbringung in haftähnlichen, geschlossenen Lagern an den EU-Außengrenzen vor, sowie Abschiebungen in »sichere Drittstaaten«, die die Geflüchteten auf ihrem Weg passiert haben – egal ob sie dort soziale Kontakte und Möglichkeiten auf ein Auskommen haben oder ihnen Kettenabschiebung droht. Auch dafür sind die Deals mit den Drittstaaten notwendig. Zudem sind verkürzte Grenzverfahren geplant, für Menschen, die aus Ländern mit einer Anerkennungsquote von weniger als 20 Prozent kommen. Rechtsbeistand wird so quasi verunmöglicht. Angesichts der Migration über Belarus nach Polen wurde zudem die Krisenverordnung eingeführt: Länder dürfen die Aufnahme von Asylbewerbern stoppen, wenn letztere angeblich instrumentalisiert werden, um die EU zu destabilisieren.
Mit den Reformen wird teils nur die schon gängige, vormals illegale Behördenpraxis in geltendes Recht überführt. So hatte Italien bereits während der Coronakrise die Möglichkeit, Asylanträge zu stellen, ausgesetzt. Massenhafte Pushbacks wie beispielsweise an der polnisch-belarussischen Grenze gibt es auf allen Fluchtrouten schon lange.
Die GEAS-Reform spiegelt zwar den gesamteuropäischen Rechtsruck wider, hindert jedoch die Mitgliedstaaten nicht an Alleingängen. Während allen voran die wiedergewählte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Staatengemeinschaft vor allem zur Absicherung des neoliberalen Wirtschaftsprojektes EU zusammenhalten will, schlagen immer mehr Regierungen nationale Wege ein. Um den Rechten »nicht das Feld zu überlassen«, werden deren Narrative vom Schutz der eigenen Grenzen aufgegriffen und auf Lösungen für die EU umgemünzt. So verschwestern sich von der Leyen und die italienische Premierministerin Giorgia Meloni zunehmend. Beim EU-Gipfel im Mai lobte von der Leyen Melonis Albanien-Modell. Dieses beinhaltet, dass die Asylanträge von erwachsenen männlichen Migranten in einem geschlossenen Lager in Albanien bearbeitet werden, anstatt in Italien.
Der polnische Premier und ehemalige EU-Ratspräsident Donald Tusk kündigte beim EU-Gipfel im Oktober an, das Asylrecht an der Grenze zu Belarus aussetzen zu wollen, da der dortige Präsident Lukaschenko angeblich Geflüchtete an die Grenze bringen lasse, um die EU unter Druck zu setzen. SPD-Innenministerin Nancy Faeser äußerte, man prüfe in Deutschland noch, ob ausgelagerte Asylverfahren möglich seien. Schon im September hatte Faeser vorübergehende Kontrollen an allen deutschen Außengrenzen eingeführt. Anfang kommenden Jahres wird das »Sicherheitspaket« in Kraft treten, das Aufnahmestopps und Zurückweisungen an der Grenze legalisiert. Die Anfang November verabschiedete Umsetzung der GEAS-Reform in Deutschland bezeichnete die NGO »Pro Asyl« als »größte Asylrechtsverschärfung seit Jahrzehnten«.
Zudem findet die zunehmende Kriminalisierung Geflüchteter in der EU unter dem Label der »Schmugglerbekämpfung« statt. Immer mehr Länder übernehmen das 2002 beschlossene »Facilitators Package« der EU, das unter Stärkung der EU-Grenzagentur Frontex und der europäischen Polizeibehörde Europol die »Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt« bekämpfen will. Aktuell läuft der EU-Aktionsplan 2021–2025, der unter anderem die Kommunikation der nationalen Sicherheitsbehörden stärken soll. Betroffen sind die Geflüchteten selbst: So wird in Griechenland systematisch pro ankommendem Boot mindestens eine Person des Schmuggels bezichtigt. Den Geflüchteten drohen Prozesse, bei denen sie unter dünnster Beweislage zu mehreren Jahren Haft verurteilt werden.
Der Widerstand dagegen reißt nicht ab. Seenotrettungsorganisationen machen ihre Arbeit, obwohl Italien, Griechenland und Malta keine sicheren Häfen bieten, ihre Schiffe festsetzen oder Kapitäne anklagen. Zahlreiche ehrenamtliche Vereine wie »No Name Kitchen« oder »Blindspots« helfen Geflüchteten, auf ihrer Route ein Mindestmaß an Essen, Trinken und Gesundheitsversorgung zu erhalten. In der vergangenen Woche protestierten Geflüchtete vor griechischen Lagern, um Dolmetscher für medizinische Versorgung und die Asylverfahren zur Verfügung gestellt zu bekommen. Im Mai wurde ein polnischer Grenzsoldat an der Grenze zu Belarus von einer Person auf der Flucht mit einem Messer angegriffen und starb an den Folgen, Details sind nicht bekannt. Doch Massenproteste gegen die aktuellen Entwicklungen bleiben aus.
Francis wartet immer noch auf die Straßenbahn, wippt von einem Fuß auf den anderen, der Boden ist kalt. Auch ich friere und übersetze ihm das Lied »Free« der Rapperin Ebow: »… Wo Menschen ertrinken und wenn sie es doch noch schaffen, schafft es dieses Land, sie kaputtzumachen.« Francis nickt. Er habe niemanden mehr in Niger, erzählt er, aber wenigstens fühle er sich dort zu Hause. Aber was soll er machen, die Armut dort könne ich mir gar nicht vorstellen. Hier jedoch, Francis weist auf die Industrielandschaft um uns herum, hier fühle er sich einsam und unnütz. Wie er die politische Situation, all die toten Geflüchteten wahrnehme, will ich wissen. Er zuckt die Schultern, schaut weg. Woran er denkt, will er mir nicht sagen. Es gibt Menschen, die einem die Fotos von den Verletzungen zeigen wollen, die sie durch die Schläge der polnischen oder serbischen Polizisten auf Rücken und Beine erlitten haben und es gibt jene, die nicht darüber sprechen. Ob er um Menschen trauere, frage ich. »Menschen werden immer über die Grenzen kommen«, sagt Francis statt dessen.
Yaro Allisat ist freier Autor und schreibt regelmäßig für junge Welt. Er berät ehrenamtlich Asylsuchende an der Refugee Law Clinic Leipzig
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