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Aus: Migration, Beilage der jW vom 11.12.2024
Migration

Vertreibung an vier Fronten

Israelische Kriegführung: Genozid in Gaza, Invasion im Libanon, Bekämpfung der Beduinen und Siedlerkolonialismus im Westjordanland
Von Jakob Reimann
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Andrés weint am Grab seiner Schwester. Sie wollte in den USA als Köchin arbeiten (San Juan La Laguna, 27.6.2024)

Sie sind müde. Zwölfmal musste die Familie der jungen Studentin Rita Baroud bereits fliehen, ein Evakuierungsbefehl der israelischen Armee folgte auf den nächsten. Die 21jährige ist im Viertel Al-Rimal in Gaza-Stadt aufgewachsen. Das Haus der Familie wurde in der ersten Kriegswoche Ziel zweier Luftangriffe, denen sie entkommen konnten. Über mehrere Stationen zog die Familie schließlich in das vermeintlich sichere Rafah, die südlichste Stadt des Gazastreifens an der Grenze zu Ägypten. In den ersten Monaten nach Kriegsbeginn am 7. Oktober 2023 wurde der Großteil der rund 2,3 Millionen Menschen in Gaza sukzessive über »humanitäre Korridore« und »sichere Zonen« dorthin zwangsumgesiedelt, immer wieder angegriffen von Scharfschützen, Artillerie und Kampfflugzeugen. Rafah wurde zu einem Meer von Flüchtlingszelten, die Stadt wuchs im Frühjahr 2024 auf ein Vielfaches ihrer Vorkriegsgröße an.

Anfang Mai stand die israelische Invasion bevor, die für Deutschland und die USA eine »rote Linie« darstellte. Ohne Konsequenzen zu fürchten, marschierte Israel in die Stadt mit über einer Million Vertriebenen ein, stand kurz darauf mit Panzern im Stadtzentrum und verletzte damit das wenige Tage zuvor ergangene Urteil des Internationalen Gerichtshofs, in dem die Richter Israel aufgefordert hatten, die Offensive in Rafah »sofort« einzustellen. Die israelischen Truppen verübten wiederholt Massaker an den Geflüchteten und setzten Ende Mai ein Zeltlager in Brand, wobei mindestens 45 Menschen getötet und rund 250 weitere verletzt wurden. Verstörende Videos verbreiteten sich rasch im Internet, verkohlte Leichen etwa sind dort zu sehen und ein verzweifelter Mann, der den Körper eines Babys in die Höhe hält, dem offenbar der Kopf weggesprengt wurde.

Die israelische Kriegführung hat in Gaza vorsätzlich alle Bereiche der Wasserversorgung zerstört und so die ohnehin lebensfeindliche Umgebung der vertriebenen Menschen in eine menschenunwürdige und zutiefst demütigende Realität verwandelt. Eine UNICEF-Analyse vom Mai ergab, dass im Gouvernement Gaza 87 Prozent der Wasser- und Sanitäreinrichtungen zerstört oder schwer beschädigt wurden. Entsalzungsanlagen und Abwasserpumpstationen wurden zerstört. Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Oxfam berichten »von Haufen menschlicher Exkremente und Flüssen aus Abwasser auf den Straßen, zwischen denen die Menschen hindurchspringen müssen«. Menschen müssten schmutziges Wasser trinken und Kinder würden »von Insekten gestochen, die über dem Abwasser herumschwirren«. Ganze Gebiete seien »von Ungeziefer und Fliegen befallen«. Die Oxfam-Teams berichten von massenhaft auftretenden Hautinfektionen, Fällen von wässrigem Durchfall, Hepatitis A und zahlreichen anderen Magen-Darm- und Atemwegserkrankungen. Auch der erste Fall von Polio wurde dokumentiert. Israel bombardierte Kliniken, in denen gegen die hochansteckende Krankheit geimpft wurde, und beschoss die Fahrzeuge der Helfer, die die Impfungen durchführten.

Nun ist auch Rafah ein Trümmerfeld und weitgehend zerstört, an der bedingungslosen Unterstützung der israelischen Verbrechen durch Berlin und Washington hat sich trotz aller ignorierten »roten Linien« freilich nichts geändert. Hunderttausende mussten von dort fliehen, die meisten strömten in die benachbarte, völlig überfüllte »Sicherheitszone« Al-Mawasi an der Mittelmeerküste. Auch die Familie von Rita Baroud floh weiter. Als Rita im August für The New Humanitarian die Tortur ihrer Familie aufschrieb, befanden sie sich in Deir Al-Balah in Zentralgaza, wo sie mit 18 Personen zusammengepfercht in einem einzigen Raum lebten. »Überall, wohin wir gingen, folgten uns israelische Evakuierungsbefehle und Bomben«, schrieb Rita und fasste damit die demütigende Strategie zusammen, die das israelische Militär seit jeher verfolgt: Die 2,3 Millionen Menschen in Gaza wurden von der israelischen Führung von Anfang an als Verfügungsmasse verstanden, die nach Belieben von einer Ecke der abgeriegelten Enklave in die nächste gejagt werden kann; wer sich dem widersetzt oder zu schwach ist zu fliehen, gilt als »Terrorist« und damit als legitimes Ziel. Wer in die »sicheren Zonen« flieht, setzt sich auch dort der Gefahr aus, von israelischen Bomben, Scharfschützen oder Maschinengewehren aus Quadcopter-Minidrohnen getötet zu werden.

Am 1. Oktober begann Israel mit der Invasion des Libanon, und die oben beschriebene Strategie wurde von Gaza auf den Süden des Landes übertragen. Kurz bevor Wohngebiete und zivile Infrastruktur bombardiert werden sollten, wurden großflächige Evakuierungsbefehle erlassen, oft weniger als eine Stunde vor Beginn der Angriffe. Allein in der ersten Woche des Überfalls auf den nördlichen Nachbarn erließ das israelische Militär Evakuierungsbefehle für die Bewohner von 118 Städten und Dörfern im Südlibanon, berichtet Amnesty International. Weite Teile des Landes gehören mittlerweile zu diesen Zonen, von denen Israel der Auffassung ist, sie nach Aussprechen der Warnungen nach Belieben angreifen zu können. Die israelische Führung ist offenbar der Auffassung, so seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen zum Schutz der Zivilbevölkerung nachzukommen. Insgesamt haben die israelischen Bomben über 1,2 Millionen Menschen im Libanon in die Flucht getrieben. Die meisten flohen innerhalb der Landesgrenzen in Richtung Norden und lösten damit eine humanitäre Katastrophe in dem von einer extremen Wirtschafts- und Finanzkrise gebeutelten Land aus. Weit über eine Viertelmillion flohen über die Grenze nach Syrien. Die israelische Gewalt hat es tatsächlich fertiggebracht, dass Hunderttausende den Weg in das kriegszerstörte Syrien vorgezogen haben.

Selbst Außenministerin Annalena Baerbock erkennt – zumindest narrativ – die von Israel ausgelöste Geflüchtetenkrise mittlerweile an: »Weite Teile Gazas sind ein absolutes Trümmerfeld. Den Menschen fehlt die Kraft, um weiter zu flüchten, und sie drängen sich in den letzten, auch kaum mehr sicheren Zonen«, heißt es in einer Pressemitteilung vom 10. November. Die Heuchelei solcher Äußerungen springt freilich ins Auge, hatte Baerbock doch selbst in ihrer Bundestagsrede einen Monat zuvor Zufluchtsorten wie Schulen und Krankenhäusern in Gaza den völkerrechtlichen Schutz abgesprochen, als sie zunächst klarstellte, dass Israels »Selbstverteidigung« für sie bedeute, »dass man Terroristen nicht nur angreift, sondern zerstört«. Und wenn »Hamas-Terroristen sich hinter Menschen, hinter Schulen verschanzen«, so Baerbock weiter, »dann können auch zivile Orte ihren Schutzstatus verlieren«. Die für Grüne üblichen »Bauchschmerzen« bildeten sich im Ton ihrer Stimme ab, doch gleichzeitig versicherte sie, bei der Bombardierung ziviler Orte an der Seite Israels zu stehen: »Dazu steht Deutschland«. In derselben Bundestagsdebatte hatte Kanzler Olaf Scholz sogleich verkündet: »Wir haben Waffen geliefert, und wir werden Waffen liefern«.

Die Äußerungen der Außenministerin wie auch des Bundeskanzlers gingen um die Welt und wurden allgemein als bundesdeutsches Bekenntnis zur fortgesetzten Unterstützung israelischer Verbrechen durch die BRD gewertet. Gab es aus der Sorge heraus, bald als Komplizen auf der Anklagebank in Den Haag zu sitzen, bis Ende August de facto einen Genehmigungsstopp, soll sich die Bundesregierung Berichten zufolge von Israel die schriftliche Zusicherung eingeholt haben, dass deutsche Waffen ausschließlich völkerrechtskonform eingesetzt würden, woraufhin in den ersten Wochen bereits wieder neue Rüstungsexporte im Wert von über 94 Millionen Euro genehmigt wurden. Und am 12. November wurde bei Thyssen-Krupp in Kiel heimlich, still und leise, von der Polizei weiträumig abgeriegelt, die für Israel bestimmte »INS Drakon«, das »am stärksten bewaffnete konventionelle U-Boot der Welt«, wie die Kieler Nachrichten schreiben, feierlich getauft. Wie ihre beiden Vorgängerinnen wird auch die »Drakon« zu einem Drittel aus deutschen Steuergeldern finanziert. Insgesamt stammen laut SIPRI 29 Prozent der in den letzten 15 Jahren nach Israel gelieferten Waffen aus Deutschland. Wenn sich also Außenministerin Baerbock wieder einmal über das »absolute Trümmerfeld« in Gaza wundert – es ist zu einem großen Teil »made in Germany«. Und die scheidende Ampel sicherte ihren ultrarechten, teils faschistischen Partnern in Tel Aviv zu, dass auch in Zukunft die Zivilbevölkerung in Gaza, im Libanon und anderswo mit deutschem Kriegsgerät in die Flucht geschlagen wird.

Auch innerhalb der »Grünen Linie«, dem völkerrechtlich anerkannten Staatsgebiet Israels, geht die Vertreibung der indigenen Bevölkerung unvermindert weiter. Praktisch seit der Staatsgründung 1948 bekämpft die israelische Regierung die Beduinen, die seit Jahrtausenden in der vergleichsweise dünn besiedelten Wüste Negev leben. Knapp eine Viertelmillion von ihnen lebt auf israelischem Staatsgebiet, die meisten wurden in die sieben von der Regierung errichteten Beduinenreservate im Norden der Wüste umgesiedelt. Diese sind deutlich überbevölkert und weisen zumeist unterdurchschnittliche Lebensbedingungen und Infrastruktur auf. Rund 80.000 Beduinen leben in gut drei Dutzend Dörfern und Gemeinden, die potentiell ihrem Abriss entgegensehen. Nach Angaben des Negev Coexistence Forum for Civil Equality, einer Zivilorganisation, die Hauszerstörungen in der Beduinengemeinschaft verfolgt, wurden in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 2.007 Beduinenhäuser vom israelischen Militär abgerissen, berichtete Times of Israel im August. Insgesamt wurden in den letzten Jahren die Häuser von Zehntausenden Beduinenfamilien zerstört und deren Mitglieder vertrieben.

Am 14. November wurde das Beduinendorf Umm Al-Hiran im nördlichen Negev vollständig dem Erdboden gleichgemacht. Nach einem mehr als zwei Jahrzehnte andauernden Rechtsstreit um die geplante Zerstörung des Dorfes und mehreren Teilabrissen in den vergangenen Jahren lebten dort nur noch rund 300 Menschen. Verzweifelt über die Aussicht, horrende Strafen für den Abriss zahlen zu müssen, ertrugen viele von ihnen die Demütigung und rissen ihre Häuser selbst ab. Wer nicht gehen wollte, sah sich der israelischen Staatsgewalt gegenüber; drei Dorfälteste wurden im Vorfeld verhaftet. Dann stürmten Hunderte von Spezialpolizisten das Dorf und riegelten es ab, berichtet der israelische Videojournalist Oren Ziv auf X. Von Ziv veröffentlichte Videos zeigen, wie Bulldozer die verbliebenen Beduinenhäuser einreißen und unter dem Schutz schwer bewaffneter Polizisten auch die Moschee des Dorfes dem Erdboden gleichmachen. »Seit Anfang des Jahres ist die Zahl der Abrissverfügungen um 400 Prozent gestiegen«, brüstet sich der faschistische Polizeiminister Itamar Ben-Gvir auf Telegram, »wir sind stolz darauf, eine konsequente Politik des Abrisses illegaler Häuser im Negev zu führen«. Die entwurzelten Bewohner von Umm Al-Hiran sollen einer neuen, rein jüdischen Siedlung namens Dror weichen, die 2.400 Familien ein Zuhause bieten soll, so der Plan, über den The New Arab berichtet. Israel beschränkt die ethnische Säuberung nicht auf palästinensisches Gebiet, sondern treibt die Vertreibung der unerwünschten Bevölkerung auch innerhalb der eigenen Grenzen auf die Spitze.

Mit dem Erdrutschsieg Donald Trumps dürfte sich die Lage im Westjordanland unter dessen zweiter Präsidentschaft weiter verschärfen, was auch an dieser Front des israelischen Krieges gegen die palästinensische Bevölkerung neue Massenvertreibungen auslösen dürfte. Trumps designierter Botschafter in Israel, Mike Huckabee, erklärte einmal, »so etwas wie einen Palästinenser gibt es einfach nicht«, und beharrt darauf, für das Westjordanland die biblischen Bezeichnungen »Judäa und Samaria« zu verwenden. Er ist so etwas wie ein US-amerikanischer Siedlungsaktivist, 2017 legte er den Grundstein für ein gänzlich neues Wohnviertel in einer illegalen Siedlung östlich von Jerusalem, berichtet CNN. Huckabees Pendant, der künftige israelische Botschafter in Washington, Yechiel Leiter, ist ebenfalls ein Siedlungsaktivist und war Mitglied der vom Faschisten Meir Kahane gegründeten Jewish Defense League. Nach Trumps Wahlsieg kündigte der ultrarechte israelische Finanzminister Bezalel Smotrich an, dass 2025 das Jahr sei, in dem die israelische »Souveränität« auf das gesamte Westjordanland ausgeweitet werde, was die übliche Spreche der israelischen Rechten für »Annexion« ist.

Infolge des Ausscheidens der Biden-Regierung und der Wahlniederlage von Kamala Harris fallen auch US-seitig die letzten bürokratischen Hürden für die Annexion des Westjordanlands, die nur noch eine Formalie zu sein scheint. In Tel Aviv und Washington arbeiten nun ultrarechte, teils faschistische und siedleraktivistische Akteure zusammen, um dem palästinensischen Staatsprojekt mit vereinten Kräften den letzten Sargnagel einzuschlagen und die Unterwerfung der Palästinenser zu vollenden. Es droht eine sprunghafte Zunahme von Landraub und illegalem Siedlungsbau sowie eine Eskalation sowohl der Angriffe des israelischen Militärs auf Dörfer und Städte im Westjordanland als auch der Pogrome faschistischer Siedler. Israels anhaltende Kampagne der Vertreibung und Entwurzelung stellt eine existentielle Bedrohung für die Menschen in Gaza, im Südlibanon, im Negev und im Westjordanland dar.

Jakob Reimann ist freier Journalist, Autor und ­Podcaster.

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