Entrechtung und Isolation
Von Tareq AlaowsAn den Grenzen der Europäischen Union treffen Schutzsuchende mittlerweile auf unerbittliche Härte. Die jüngsten Pläne der EU-Staaten, haftähnliche Unterkünfte für Geflüchtete zu schaffen, werfen einen Schatten auf das, was einst ein Recht auf Asyl war. Solche Orte der Isolation und Entrechtung verdeutlichen eine erschreckende Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leid, sie untergraben die vorgeblichen Grundwerte der Gesellschaft und greifen in ihrer Konsequenz bürgerliche Rechte und Freiheiten an.
Es ist bittere Ironie und ein deutliches Zeichen, dass die Regierungen der EU dabei zunehmend auf die Zusammenarbeit mit anderen Regierungen setzen, die ebenfalls Menschenrechte missachten. Wer Menschen nach Afghanistan, in den Iran oder nach Syrien zurückschickt, bringt ihr Leben in Gefahr und verrät die »Werte«, welche die EU-Politiker in anderen Zusammenhängen gerne vorgeben, schützen zu wollen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bestätigte im Oktober zwar die Unrechtmäßigkeit von Zurückweisungen an den Binnengrenzen. Der aus Syrien stammende Kläger stellte im Juni 2018 auf der griechischen Insel Leros einen Asylantrag. Er litt unter den dortigen Lebensverhältnissen, die jenen im Elendslager »Moria« auf Lesbos glichen. Zudem fürchtete er eine Abschiebung in die Türkei und von dort die Kettenabschiebung nach Syrien. Im September 2018 floh er dann über Österreich nach Deutschland. Dabei wurde er von der deutschen Bundespolizei aufgegriffen und, trotz dass er ein Asylgesuch äußerte, nur wenige Stunden später nach Griechenland abgeschoben.
»Der Versuch Deutschlands, Europarecht zu umgehen und Menschen im Hauruckverfahren zurückzuweisen, ist gescheitert. Der EGMR macht deutlich, dass Zugang zu einem rechtsstaatlichen Verfahren zwingend erforderlich ist, um schwerste Menschenrechtsverletzungen, wie sie der Beschwerdeführer erlitten hat, zu verhindern«, sagte Hanaa Hakiki, Juristin beim Europäischen Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte (ECCHR). Fraglich ist jedoch, ob sich diese Praxis ändert.
Der aktuelle Diskurs beunruhigt: Geflüchtete Menschen werden zu Sündenböcken für Probleme gemacht, die sie nicht verursacht haben. Sie werden zur Bedrohung verbrämt, die angeblich die Gesellschaft aus dem Gleichgewicht bringe, und überhaupt zur »Mutter aller Probleme« (Horst Seehofer) gemacht. Das ist nicht nur falsch, sondern auch Ausdruck eines Politikstils, der durch das »Treten nach unten« geprägt ist. Ohnehin bereits benachteiligte Menschen werden weiter entrechtet und die Gesellschaft gespalten.
Politiker brechen komplexe Zusammenhänge sozialer und wirtschaftlicher Herausforderungen auf einfache rechte Narrative herunter. Viele aktuell beschlossene restriktive Maßnahmen waren als Forderungen aus der rechten Ecke bekannt – Massenabschiebungen, Isolation, das Streichen von Sozialleistungen, die Abschaffung des individuellen Rechts auf Asyl – ; heute sind sie Teil der politischen Agenda. Diese Scheinlösungen haben gravierende Folgen für viele Menschen, ohne tatsächlich Probleme anzugehen.
Ein Instrument dabei ist die Sprache. Mit Wortneuschöpfungen wird zunehmend verschleiert, wer von der ausgrenzenden Politik schließlich betroffen ist: Frauen, Männer und Kinder, die Schutz suchen. Begriffe wie »illegale Flüchtlinge« oder »irreguläre Migration« unterstellen den Menschen, bewusst Gesetze zu missachten. Während sie also rhetorisch auf eine Stufe mit Kriminellen gestellt werden, haben sie schlicht keine Wahl – die EU hat sich in den vergangenen Jahren große Mühe gegeben, jeden »legalen« Weg zum Recht auf Asyl zu versperren. Das Wort »illegal« wird zum Stigma: Doch mehr als 70 Prozent der inhaltlich geprüften Asylanträge werden schlussendlich positiv entschieden. Diese Quote zeigt: Die Mehrheit der Menschen flieht, weil sie durch Krieg, Verfolgung oder die pure Hoffnungslosigkeit dazu gezwungen sind.
Die Misere der Asyl- und Migrationspolitik endet überdies nicht an den Grenzen. In Deutschland gibt es viele Menschen, die arbeiten und sich ein Leben aufbauen möchten, aber durch Arbeitsverbote daran gehindert werden. Diese Umstände treiben sie in die Abhängigkeit von Sozialleistungen. Das verstärkt genau die Vorurteile, die gegen sie geschürt werden. Die Gesellschaft, die regelmäßig vorgibt an einem Fachkräftemangel zu leiden, hindert fähige Menschen daran, zu arbeiten. In einzelnen Kommunen wurden bereits die im Asylgesetz verankerten Arbeitspflichten aktiviert, die Geflüchtete zu Tätigkeiten verpflichten können. Der Stundenlohn beträgt oft weniger als einen Euro.
Ein ähnlich verheerendes Instrument ist auch die neu eingeführte Bezahlkarte. Sie verweigert Geflüchteten den Zugang zu Bargeld und lässt sie nur noch in ausgewählten Geschäften einkaufen. Selbständig zu wirtschaften und vollständig an der Gesellschaft teilzuhaben, ist so unmöglich. Auf günstige Alternativen wie den Flohmarkt ausweichen oder spezifische Lebensmittel aus ihrem Herkunftsland oder ein Stück Kuchen auf dem Schulfest kaufen ebenso. All diese Maßnahmen dienen den offiziellen Begründungen zufolge dazu, »Anreize« zur Einreise zu senken. Ob das aber nur einen einzigen geflüchteten Menschen vom gefährlichen Weg nach in die EU abhalten wird, ist stark zu bezweifeln.
Tareq Alaows ist flüchtlingspolitischer Sprecher von Pro Asyl.
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