»Ich wollte aus Chile heraus« - Gedenktour durch die Bundesrepublik für chilenischen Musiker und Diktaturopfer Víctor Jara. Ein Gespräch mit Amanda Jara
Von Carmela NegreteWährend Ihres Aufenthaltes in Deutschland sind neue Informationen ans Licht gekommen, die untermauern, dass der deutsche Auslandsgeheimdienst BND womöglich in den Putsch in Chile involviert war. Wie haben Sie auf die Nachricht reagiert?
Es ist schrecklich, und ich würde gerne sehen, dass die deutschen Behörden diese Informationen transparent machen und freigeben, damit bekannt wird, wie die internationalen Allianzen während der Regierungszeit der Unidad Popular dazu beigetragen haben, die Volksregierung zu destabilisieren. In Zeiten des Leugnens und der Relativierung von Gewalt, ja sogar der Rechtfertigung von Gewalt, ist es wichtig, diese Informationen zu kennen. Seit ich mich erinnern kann, bin ich meiner Mutter auf der Suche nach Gerechtigkeit gefolgt. Es war sehr schwierig, die Geschichte der Vorbereitung auf den Putsch zu rekonstruieren. Diese Nachrichten sind schrecklich, auch nach so langer Zeit. Aber wir haben nicht aufgegeben, nach Informationen zu suchen, und tatsächlich gibt es immer noch mehr als 1.200 verschwundene Personen, die bisher nicht gefunden wurden.
Wann haben Sie angefangen, sich für die Aufklärung des Putsches und für die Demokratie einzusetzen?
Als Kind dachte ich nie, dass wir 50 Jahre später die Notwendigkeit, fast die Verpflichtung haben würden, darüber zu sprechen. Das zeigt, wie tief die offene Wunde ist und welchen enormen Einfluss der Putsch auf die chilenische Gesellschaft hatte. Wir leiden immer noch unter den Folgen der Straffreiheit und dem Pakt des Schweigens in den Streitkräften. Ohne die Arbeit der Familienangehörigen und sozialen Organisationen hätten wir nie auch nur einen Bruchteil der Wahrheit darüber herausgefunden, was geschehen ist.
Wie groß ist von offizieller Seite das Interesse an Aufklärung?
Es besteht ein sehr aktives Interesse daran, dies alles zu verbergen und unter den Teppich zu kehren, um eine Tragödie zu verschleiern, unter der wir immer noch leiden. Diese betrifft nicht nur die direkten Familienangehörigen der Opfer von Repression, Folter und Mord, sondern nach dem Putsch wurde in der Gesellschaft ein wirtschaftliches System etabliert, von dem wir uns immer noch nicht befreien konnten, mit einer miserablen öffentlichen Bildung, armseligen Renten usw.
Sie haben als Kind die DDR besucht. Woran können Sie sich erinnern?
Der Vater meiner Schwester war hier. Meine Mutter hatte zuerst Patricio Bunster und dann meinen Vater geheiratet. Patricio wurde hierher gebracht und als Exilant aufgenommen. Wir kamen, um ihn zu besuchen, und ich habe Erinnerungen an die Grenzüberquerung von Ost- nach Westberlin. Ich habe mich wirklich erschrocken, es war wie in einem Film, und ich war damals ungefähr zwölf Jahre alt. Aber ich erinnere mich, als wäre es letzte Woche gewesen.
Wie verlief Ihre Flucht aus Chile?
Die dauerte mehrere Tage. Meine Mutter musste meinen Vater allein mit zwei Freunden beerdigen. Bis wir abreisten, erinnere ich mich, wie sie Plakate und Schallplatten aus der DDR beseitigte, indem sie alles vergrub oder verbrannte, damit es nicht gefunden würde. Aber meine Mutter war sehr tapfer. Sie rettete Originalaufnahmen von Liedern meines Vaters, die nach seinem Tod veröffentlicht wurden. Ein schwedischer Journalist nahm sie im Diplomatengepäck mit. Wir gingen zum Flughafen, begleitet von zwei britischen Botschaftsbeamten, und in den Koffern befanden sich weder Kleidung noch Spielzeug, sondern Zeitungsausschnitte, Bänder und Fotos – alles, was meine Mutter retten konnte. Der Flughafen war leer, es gab nur Soldaten und Touristen, sehr wenig Betrieb, es war sehr einsam dort, und wir flogen mit sehr wenigen Menschen. Ich kam in ein Land, in dem ich die Sprache nicht sprechen konnte, aber Kinder sind erstaunlich, also lernte ich die Sprache und hatte Freunde zum Spielen im Hof.
Und dann gingen Sie nach London?
Meine Mutter war Engländerin, also habe ich sie in ihrem Element kennengelernt, das war schön. Ich habe ihre Familie kennengelernt, das Haus, in dem sie aufgewachsen ist, ihre Schule. Tatsächlich sind wir auf die Schule gegangen, an der sie als Kind unterrichtet wurde. Das alles war schön. Wir hatten gute Erfahrungen und viel Glück, denn wir wurden von einer Künstlerfamilie aufgenommen, einem Dichter und einer Schauspielerin, die zwei Töchter hatten. Sie waren Fremde, wurden aber später Teil unserer Familie. Ich lebte in einem schönen Viertel, besuchte eine wunderbare Schule mit linken Intellektuellen.
Sie sind schließlich wieder zurück nach Chile gezogen. Warum blieben Sie dort?
Ich begleitete meine Mutter zur Arbeit an dem Buch, das sie im Jahr 1981 über das Leben meines Vaters geschrieben hat. Ich war von Chile fasziniert. Auf einmal lernte ich ein Land kennen, das voller Chilenen war, für mich etwas Faszinierendes, denn ich kannte sie nur als Minderheit im Ausland. Auch die Kleidung beeindruckte mich: Alle trugen Schwarz, Grau, Blau, fast uniform in ihrer visuellen Erscheinung. Ich hatte in diesem Moment den Wunsch, dort zu bleiben, aber im Leben muss man praktisch sein, und ich dachte: »Nein, ich muss die Schule beenden.« Bevor ich an die Universität ging, wollte ich ein Jahr nach Chile zurückkehren, aber dieses Jahr wurde zu einem »immer« und ich kehrte nie mehr nach London zurück. Und als die Demokratie nach Chile zurückkehrte, wurde die Stiftung Víctor Jara gegründet, um nicht nur zu erzählen, dass mein Vater ermordet wurde, sondern auch sein Werk bekannt zu machen.
Wie haben Sie das Referendum für eine neue Verfassung in Chile 2019 erlebt?
Das war äußerst schwierig und verwirrend für alle. Nur etwa 20 Prozent haben es unterstützt. Es war sehr schwer zu verstehen, was am Wahltag passiert war. Einige sagen, dass Putsche heutzutage über die Medien, mit Fake News und einer Umgebung voller Lügen und Informationsmanipulation ablaufen. Es wäre interessant, dies genauer zu analysieren, denn wir haben bisher nicht die notwendige Selbstkritik geübt. Es gab viel Identitätspolitik, die uns spaltete und uns vom großen Projekt ablenkte.
Welche Bedeutung hatte die Abstimmung für Sie?
Es wäre wichtig gewesen, um aus dieser neoliberalen Struktur herauszukommen, in der es uns seitdem schwergefallen ist, bestimmte demokratische Rechte zurückzugewinnen. Seit 1990 ist es sehr schwierig, die Struktur der Diktatur abzubauen. Vorher hatten wir eine gute öffentliche Bildung, mein Vater konnte an der Universität studieren, obwohl er kein Geld hatte. Der Putsch hat all das verändert. Ohne Geld besuchst du eine schlechtere Schule und hast nicht viele Chancen. Die Renten sind im Keller gelandet, und jetzt, wenn du dein ganzes Leben als Lehrer arbeitest, endest du mit einer Armutsrente. Es dauert sehr lange, sich davon zu erholen, und das ist es, was beim Referendum verlorengegangen ist: die Ressourcen wieder in die öffentliche Bildung, in ein gerechteres Rentensystem, in das öffentliche Gesundheitswesen zu investieren. Das sind die wichtigen Anliegen.
War es Ihnen wichtig, diese Tour in Deutschland zu führen?
Als sich mir die Gelegenheit bot, nach Deutschland zu kommen, dachte ich, dass ich nicht gerne reise. Aber ich wollte aus Chile heraus, weil die Atmosphäre so ist, dass man den Fernseher ausschalten muss: Die Diskussion ist stark manipuliert, es gibt eine redaktionelle Linie, die von der extremen Rechten in allen Morgenmagazinen vertreten wird, und Falsches wird verbreitet, ohne dass jemand etwas dagegen sagt. Es herrscht eine Atmosphäre der Leugnung und Relativierung von Gewalt, in der behauptet wird, dass der Putsch notwendig oder die Unidad Popular schuld daran war. Das ist sehr verstörend.
Wenn die Demokratie bedroht ist, kann nur mehr Demokratie das Problem lösen, und deshalb war die Gelegenheit, aus Chile wegzugehen, auch für mich eine Möglichkeit, andere über Chile sprechen zu hören, zu erfahren, wie sie die Situation sehen. Wir sehen, dass Nationalismus weltweit auf dem Vormarsch ist. Tatsächlich gewinnt die extreme Rechte in Argentinien, hier in Deutschland, in Italien an Einfluss.
Amanada Jara ist Malerin und eine von zwei Töchtern des von der chilenischen Diktatur ermordeten Sängers Víctor Jara
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