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21.02.2010, 18:12:43 / Buchmesse Havanna 2010

»Lieber zuviel Freiheit«

Von Interview: André Scheer
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Über neue Tendenzen in der Literatur Lateinamerikas, Chávez’ Bekenntnis zum Marxismus und die Wahlen in Venezuela. Ein Gespräch mit Luis Britto García

Luis Britto García (geboren 1940 in Caracas) ist einer der bekanntesten Schriftsteller, Essayisten und Literaturwissenschaftler Venezuelas. Auf der Internationalen Buchmesse in Havanna stellte er seinen neuen Roman »Pirata« vor

Welchen Eindruck haben Sie von der Internationalen Buchmesse in Havanna?

Einige meiner Kollegen haben gesagt, diese Messe gleiche eher einem Rockkonzert oder einem Fußballendspiel. Es ist immer wieder beeindruckend, wie neue Bücher so viele Menschen anziehen können. Wir kennen so etwas von Großveranstaltungen wie der Buchmesse in Frankfurt, aber in Lateinamerika, das noch immer vom Analphabetismus geprägt ist, ist eine solche Veranstaltung, die so viele Menschen anzieht, die sich neue Bücher ansehen wollen, einzigartig und beispielhaft.

Gibt es etwas vergleichbares in Venezuela?

Es gibt eine jährliche Buchmesse, aber diese erreicht keine solche Größenordnung wie hier in Havanna oder auch in Bogotá, wo es ebenfalls eine große Buchmesse gibt. In Venezuela hat die Regierung die Auflagenzahl der veröffentlichten Bücher verdreifacht und den Analphabetismus überwunden, wofür sie von der UNESCO ausgezeichnet wurde. Es gibt aber noch einige Probleme beim Vertrieb und vor allem beim Leseverhalten.

Was sind für Sie die derzeit wichtigsten Entwicklungen in der lateinamerikanischen Literatur?

Interessanterweise beeinflußt die Integration Lateinamerikas die Literatur noch nicht. Manchmal dauert es, bis aktuelle Ereignisse von der Literatur widergespiegelt werden. Andere Ereignisse werden von der Literatur hingegen vorweggenommen. So spielt die derzeitige Entwicklung Venezuelas zum Sozialismus in der Literatur unseres Landes bereits seit 1960 eine Rolle, es gab eine revolutionäre Kultur­avantgarde. Es gibt viele Bücher, die die Rebellion und die Gewalt in Venezuela zum Thema haben, aber der große Roman über den venezolanischen Prozeß ist noch nicht erschienen. Das kann man aber nicht erzwingen, sondern muß Geduld haben. Es hat bereits einige Versuche gegeben, die aber von ihrer Form her nicht sonderlich gelungen sind.

In der Literatur Lateinamerikas dominiert nach einer Phase von Experimenten auf der formellen Ebene derzeit eine Richtung sehr einfacher Erzählungen über persönliche Ereignisse und persönliche Sichtweisen. Die Autoren beschreiben sehr umfangreiche und komplizierte Themen, aber in einer Weise, die das Verständnis durch den Leser vereinfacht. Interessanterweise gibt es eine reichhaltige Literatur über das Exil, viele Schriftsteller, schreiben über ihre Erfahrungen in Europa oder in den USA. Ein weiteres Thema ist der Staatsterrorismus, der in gewisser Weise das Genre des lateinamerikanischen Kriminalromans prägt. Schließlich gibt es eine starke Strömung weiblicher lateinamerikanischer Literatur. Immer mehr Frauen schreiben sehr gute Bücher und erreichen damit ein großes Publikum.

Welche Rolle spielen die Massenmedien?

Darauf generell für ganz Lateinamerika zu antworten, ist schwierig, weil es sehr unterschiedliche Aspekte gibt. In Venezuela haben die großen Zeitungen zum Beispiel ihre Literaturbeilagen weitgehend abgeschafft, weil sie sich wirtschaftlich nicht rentiert haben. Vor kurzem haben jedoch einige Zeitungen diese Literaturbeilagen wieder eingeführt, aber nur, um bestimmten Autoren aus der Opposition Raum zu geben und sie so in gewisser Weise zu Sprechern der Regierungsgegner zu machen. Verglichen mit der großen Macht, die die Massenmedien haben, ist ihre Verbindung mit der Literatur aber sehr zurückhaltend.

Gibt es darauf eine Antwort durch die fortschrittlichen Regierungen Lateinamerikas?

Die Medien in Lateinamerika stehen nahezu geschlossen in Opposition zu den fortschrittlichen Regierungen. Sie kritisieren absolut alles, was ja auch ihr gutes Recht ist, aber unter dem Mantel der Meinungsfreiheit rufen sie auch zur Ermordung von Staatschefs und zu Putschen auf und verbreiten Falschmeldungen, um Verwirrung zu stiften. In dieser Lage kann eine Regierung nur wenig tun, um diese Medien dazu zu bringen, der Kultur größeren Raum zu geben. Die venezolanische Regierung hat eine Linie des absoluten Respekts der Meinungsfreiheit verfolgt, selbst Medien, die zu Morden aufgerufen haben, ist nichts passiert. Die Regierung läßt sich lieber dafür kritisieren, überzogen viel Freiheit zu gewähren, als sich dem Vorwurf auszusetzen, die Meinungsfreiheit einzuschränken. Die Privatmedien interessiert nur der Gewinn, und sie richten ihre Programme vollständig danach aus. Deshalb entstehen neue Medien, an der Basis oder öffentlich-rechtliche Kanäle. In Venezuela gibt es mittlerweile fünf öffentliche Fernsehsender, dazu kommen alternative Medien, kleine Radio- und Fernsehsender mit sehr begrenzter Reichweite. Das ist eine sehr starke Bewegung, um diese Einstimmigkeit der Medien zu durchbrechen. In Venezuela erscheinen 90 Tageszeitungen, davon verfolgen nur zwei eine ausgewogene Linie. Interessanterweise sind das die beiden Zeitungen mit der größten Auflage, die Öffentlichkeit möchte also eine solche ausgewogene Berichterstattung haben. In den letzten Jahren sind außerdem zwei Zeitungen entstanden, die die Regierung unterstützen. Im Fernsehen gibt es 70 Kanäle, die in eiserner Feindschaft gegen die Regierung stehen. Anfangs gab es dagegen nur einen einzigen öffentlichen Kanal, der noch nicht einmal im ganzen Land gesehen werden konnte. Zu diesem sind mittlerweile vier weitere Programme gekommen.

In Bolivien ist die Lage genauso, es gibt eine Blockade der Medien gegen die Regierung von Evo. In Ecuador konnte ich beobachten, daß es eine regelrechte Medienoffensive gegen die Regierung von Rafael Correa gibt.

Besonders Venezuelas Präsident Hugo Chávez wirbt häufig bei seinen Auftritten für Bücher, die dann oft an die Spitze der Verkaufslisten stürmen...

Ja, das ist eine ganz spannende Sache. Der Präsident hat einen unglaublichen Arbeitsrhythmus und beruft seine Minister manchmal mitten in der Nacht zu Sitzungen ein. Er liest sehr viel und hat eine wöchentliche Fernsehsendung, »Aló, Presidente«, bei der er sich stundenlang mit dem Publikum unterhält, Anrufe entgegennimmt usw. In jeder Sendung stellt er zahlreiche Bücher vor, nicht nur ein Buch, wie er Barack Obama »Die offenen Adern Lateinamerikas« von Eduardo Galeano empfohlen hat. Diese Empfehlungen sind ein wichtiger Ansporn für den Verkauf dieser Werke. Der Präsident spielt also Buchhändler, aber wenn die anderen Medien das nicht machen, ist das doch gut so.

Vor kurzem hat Präsident Chávez erstmals erklärt, daß er Marxist sei, während er früher immer betonte, nichts gegen den Marxismus zu haben, selbst jedoch kein Marxist zu sein. Ist das nun ein Strategiewechsel?

Diese Aussage bringt mir den Präsidenten noch näher, als zuvor schon, denn ich glaube, ich bin seit meinen Jugendjahren Marxist. Chávez wurde elf Jahre lang dämonisiert, ihm wurde alles mögliche vorgeworfen, seine Regierung sei kommunistisch, stalinistisch, terroristisch. Vielleicht hat sich Chávez zu einem bestimmten Zeitpunkt gefragt, was er gewinnt, wenn er sagt, daß er kein Marxist sei, wenn sie ihm das trotzdem vorwerfen. Chávez liest viel und hat sich auch in die marxistische Literatur vertieft. Offenbar haben ihn diese Werke überzeugt. Seine Verbindung zur Linken stammt schon aus der Zeit, als er noch ein sehr junger Soldat war und auf ein Lager mit linker Literatur, kleinen Broschüren und Faltblättern stieß und sie aus reiner Neugier las.

Venezuela wählt in diesem Jahr die Abgeordneten der Nationalversammlung. Was erwarten Sie von dieser Wahl?

Derzeit ist die Zusammensetzung unserer Nationalversammlung das Ergebnis der selbstmörderischen Aktionen der Opposition. Sie boykottierte die letzte Wahl, um die Abstimmung als manipuliert darzustellen, obwohl sie von Hunderten internationalen Wahlbeobachtern überwacht wurde. Wenn die Opposition diesmal an der Wahl teilnimmt, wird es diese praktische Einstimmigkeit natürlich nicht mehr geben. Ein bestimmter Teil der Opposition hat eine gewisse Relevanz, aber diese geht meiner Meinung nach nicht über 40 Prozent hinaus.

Die Nationalversammlung hätte in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe wichtiger Gesetze auf den Weg bringen müssen. Ich würde sogar sagen, die Parlamentarier hätten das Gesetzsystem eines sozialistischen Staates ausarbeiten müssen. Das ist nicht geschehen. Deshalb muß der bolivarische Prozeß sehr vorsichtig sein, wen er für das Parlament aufstellt, denn es werden umkämpfte Wahlen sein, und in der Nationalversammlung wird es dann komplizierte Diskussionen geben.

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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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