Noch immer ein Sprengsatz
Von Reinhard JellenNaheliegenderweise widmet die Münchner Philosophiezeitschrift Widerspruch Geburtstagskind Karl Marx ihre neueste Ausgabe. Die Aktualität seines Denkens verhandeln darin in zwanzig Stellungnahmen renommierte Philosophen und Gesellschaftswissenschaftler aus dem In- und Ausland. Es ist auffällig, dass alle Autoren mit der Marxschen Denkweise etwas anzufangen wissen. Das war freilich nicht immer so. Gegen sie wurde lange eine Reihe Standardargumente ins Feld geführt: Der Ökonomismus sei reduktionistisch, der Fortschrittsoptimismus veraltet, die Kapitalismusanalyse antiquiert etc. pp. Keiner dieser traditionellen Einwände findet sich in den Beiträgen. Die meisten Autoren heben vielmehr hervor, dass Marx’ Verfahren paradigmatisch für eine Wissenschaft sei, die den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang vor Augen habe – also das Gegenteil von Reduktionismus.
Dieser grenzüberschreitende Charakter des Marxschen Schaffens betreffe sowohl die empirischen Einzelwissenschaften wie die begrifflich-systematische Philosophie. So hebt etwa Martin Schraven hervor, wie Marx ständig darum rang, das Verhältnis von dialektischem Denken, verständiger Erkenntnis und sinnlicher Wahrnehmung in der Wissenschaft zu bestimmen. Offenbar wird seine Theoriebildung als Kontrast zu den immer weiter auseinanderdriftenden Spezialwissenschaften und zu einem »Fachidiotentum« wahrgenommen, das sich gerade in den Gesellschaftswissenschaften ausbreitet. Allerdings steht eine Reihe von Autoren wie Daniel Loick, Tilman Reitz oder Hans-Martin Schönherr-Mann der Marxschen Dialektik skeptisch gegenüber, die sie durch andere Verfahren wie etwa die geneologische Methode Foucaults oder die Systemtheorie Luhmanns ersetzen oder zumindest ergänzen wollen.
Fast in allen Beiträgen wird hervorgehoben, dass das Marxsche Werk nicht abgeschlossen, sondern ein »Work in progress« gewesen sei. Martin Bondeli fasst dies passend ins Bild einer »Baustelle«, an der heute weiterzuarbeiten, dabei aber auch manches abzutragen und zu ersetzen, manches zu restaurieren und an einigen Stellen auch anzubauen wäre. Weniger die Marxsche Theorie als vermeintlich in sich geschlossenes System, sondern sein unabgeschlossenes, sich ständig erweiterndes und Neues verarbeitendes Denken wird heute als vorbildlich angesehen. Über das Methodische hinaus wird Marx – freilich mit unterschiedlicher Gewichtung – auch als »Philosoph der Praxis« verstanden, für den die Theoriebildung zugleich integrales Moment der Veränderung der bestehenden Verhältnisse war. Michael Hirsch nennt beispielsweise den Kampf für die Reduktion der notwendigen Arbeitszeit, Martin Schraven die Forderung nach Überwindung des Privateigentums an Produktionsmitteln und Werner Seppmann die Aufklärung verdinglichter Bewusstseinsformen.
Überraschende Einigkeit herrscht unter den Autoren auch hinsichtlich der »analytischen Kraft« des »Kapitals«, welche nicht nur die Produktivität, sondern vor allem die Destruktivität der kapitalistischen Produktionsweise begreiflich macht. War es lange Zeit üblich, seine »Kritik der politischen Ökonomie« mit dem Argument zu historisieren, Marx habe »nur« den Konkurrenzkapitalismus des 19. Jahrhunderts vor Augen gehabt, nicht aber die »soziale Marktwirtschaft« oder den »Monopolkapitalismus« des 20. Jahrhunderts, so sind diese Stimmen angesichts des globalen »Turbokapitalismus« offenbar verstummt. Dominik Finkelde zeigt die unmittelbare Fruchtbarkeit der Marxschen Kategorie des »Fetischcharakters der Ware« für die Analyse gegenwärtiger quasi-religiös aufgeladener Statussymbole, etwa aus dem Hause Apple. Elmar Altvater legt dar, dass allein die Einsicht in den »Doppelcharakter der Arbeit« ein rechtes Verständnis der kapitalistischen Dynamik der Naturzerstörung ermöglicht. Und Fritz Reheis führt aus, wie sich mit Hilfe des Kapitalbegriffs (als sich verwertender Wert) die parallel erfolgenden Vorgänge räumlicher Globalisierung und zeitlicher Beschleunigung ökonomischer und sozialer Prozesse verstehen und kritisieren lassen. »Allein ein Blick auf die real existierenden Formen des Kapitalismus zeigt«, fasst Konrad Paul Liessmann zusammen, »dass Marxens Werk mehr ist als ein Steinbruch – richtig gelesen, wäre es noch immer ein Sprengsatz«.
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