Ideologische Abgründe
Von Dirk BraunsteinNachdem 1879 eine neue Transkription der Tagebücher von Samuel Pepys erschienen war, sah sich Robert Louis Stevenson veranlasst, deren Herausgeber mitzuteilen, was er von dessen Eingriffen in die Textgestalt hielt: »Es gehört durchaus nicht zu den Pflichten des Herausgebers eines anerkannten Klassikers, darüber zu entscheiden, ob etwas ›die Geduld des Lesers überstrapazieren‹ könnte oder nicht. Entweder das Buch ist ein historisches Dokument,oder es ist es nicht«.
Und so klingt das im Band »Kapitalismus und Opposition« mit Vorträgen Herbert Marcuses: »Wo notwendig, wurden unkommentiert einige Änderungen und ergänzende Notizen vorgenommen.« Fast abgesehen vom argen Deutsch: Wo erschien es den Herausgebern denn notwendig, welche Änderungen weshalb vorzunehmen? Welche Notizen wurden ergänzt? (Und was heißt das eigentlich?) »Aus Gründen der Präzisierung wurde ›Amerika‹ bzw. ›amerikanisch‹ durch ›USA‹ oder ›US-amerikanisch‹ ersetzt.« Natürlich nicht »oder«, sondern »bzw.«, aber davon abgesehen: weshalb denn? Ist der eingebildete Leser ein Unmündiger, dem der originale Text nicht zugemutet werden darf, weil er sonst die USA mit Paraguay verwechselte? »Die in den Texten verwendeten geschlechtsspezifischen Bezeichnungen schließen prinzipiell alle unterschiedlichen Geschlechtszuschreibungen ein.« Auch dort, wo Marcuse von der »Opposition in der Emanzipationsbewegung der Frauen« spricht? Die Herausgeber hätten gut daran getan, auf derlei Paternalismen zu verzichten. Stattdessen wählten die Verantwortlichen einen Weg der Rezeptionslenkung, auf dem keiner, der selbst denken und urteilen möchte, recht froh werden dürfte.
Dass die Publikation kaum plausibel als eigenständige für sich einstehen kann, erhellt aus der Tatsache, dass von übersichtlichen 151 Seiten lediglich 64 den Text jener sieben Vorträge bieten, die der Untertitel – ohne dass die Benennung sich irgendwo und -wie legitimierte – als »Vorlesungen zum eindimensionalen Menschen« ausweist. (Der Rest ist, bis auf ein Interview, Material Dritter.) Tatsächlich hatten die Vorträge, die Herbert Marcuse im Frühjahr 1974 an der Pariser Universität Vincennes hielt, sofern wir die übers Buch verteilten editorischen Hinweise (von »Nachweisen« lässt sich leider nicht sprechen) recht verstehen, weder jeweils noch insgesamt Überschriften. Es wäre, um der Redlichkeit den Lesern gegenüber willen, nicht vollends abwegig gewesen, einen deskriptiven Titel zu wählen – wie mit der Vorlage, der englischen Übersetzung der französischsprachigen Manuskripte, »Paris Lectures«, akkurat verfahren wurde.
»Persönliche Eindrücke aus Amerika« hätte es übrigens auch getan. Denn was Marcuse seiner Hörerschaft zumutet, sind weniger »Argumente aus den 1960er Jahren und 1970er Jahren, die auch für die heutigen Diskussionen über Kapitalismus und Opposition Anknüpfungspunkte bieten«, wie die Herausgeber wähnen, sondern vornehmlich meinungsstarke Einverständniserklärungen mit dem zeitgenössischen Nonkonformismus. An allen Ecken heißt es: »meiner Meinung nach«, »ich denke«, »ich tendiere dazu«, »ich glaube« und: »Die Vereinigten Staaten, wenn auch das Gesamtbild der US-amerikanischen Gesellschaft heute variiert, repräsentieren für mich die höchste Stufe in der Entwicklung des Monopolkapitalismus. Der ungewöhnlich hohe Grad an sozialer Kohäsion, Integration, der hohe Grad an allgemeiner Unterstützung für das etablierte System. Nicht der Regierung, aber des Systems selbst. Und dieser hohe Grad an sozialer und verbreiteter Kohäsion besteht, während die ökonomischen und politischen Schwierigkeiten des US-Kapitalismus zunehmen.« Allerdings waren ökonomische und politische Schwierigkeiten, wie immer sie auch aussahen, noch nie solche des Kapitalismus als sich selbst erhaltende Gesellschaftsform, sondern menschenvernichtende Geschäftsgrundlage des Ganzen. Marcuse stellt hingegen pseudoverblüfft fest, in den USA gebe es »keine radikale Opposition, fürwahr, auf Massenbasis. Es gibt noch nicht einmal ein Äquivalent zu, sagen wir, der britischen Labour-Party und der sozialdemokratischen Partei in Deutschland.«
Und über soviel Zutrauen in die Selbsteinhegungskräfte der Gesellschaft in Richtung Kapitalismus mit menschlichem Antlitz haben wir recht herzlich lachen müssen. Doch der Glaube an das Gute im Schlechten hat damit noch kein Ende: »Schlussendlich glaube ich, dass die Revolution des 20. Jahrhunderts, wenn sie kommen sollte, dass diese Revolution die radikalste und umfassendste der gesamten Geschichte sein wird, dass es nicht nur eine politische und ökonomische, sondern auch eine kulturelle Revolution in dem Sinne sein wird, dass sie sie« – steht da so! – »einige der grundlegendsten Werte unserer Gesellschaft transformieren, angreifen wird.« Wenn die Revolution kommt, dann kommt sie; wenn nicht, nicht.
Die Einseitigkeit, mit dem Marcuse sich dem Kapitalverhältnis nähert, führt zuweilen in ideologische Abgründe. So heißt es gleich im ersten Vortrag mit Blick auf die USA: »Wenn es unmöglich ist, ein Kandidat für die Präsidentschaftswahlen zu werden, ohne das Glück zu haben, eine Million Dollar zu besitzen, ist dies in jedem Fall eine seltsame Form von Demokratie.« – Ganz falsch ist die Aussage freilich nicht; es ist schlimmer: Sie ist insofern halb wahr, als der Verweis auf den immanenten Zusammenhang von Kapitalismus, eigentlich Marcuses Thema, und moderner Demokratie fehlt. Deshalb kann ihr heute jeder AfD-Anhänger zustimmen, um im nächsten Zug Merkel, die kein Kapital mitbringen musste, um Bundeskanzlerin zu werden, bloß unbedingten Gehorsam ihm gegenüber, als »Volksverräterin« gehängt sehen zu wünschen.
Auf Überraschungen müssen sich die Leser der Vorträge nicht gefasst machen; gegessen wird, was auf den Tisch kommt: »In gewisser Weise partizipieren die Menschen tatsächlich an der Gestaltung der Gesellschaft. Die Menschen können tatsächlich ihren Willen ausdrücken, der aber nicht mehr ihr Wille ist, sondern durch die herrschende Klasse und ihre Werkzeuge zu ihrem Willen gemacht wurde.« Es ließe sich zwar füglich fragen, wessen Willen die herrschende Klasse denn notgedrungen zu dem ihren machen muss, aber immerhin macht sich hier noch so etwas von jener Dialektik im Denken geltend, auf die vollends verzichtet wird, wenn es schließlich mit der Revolution im 20. Jahrhundert hinhauen soll: »Es gibt Anzeichen dafür, dass immer mehr Menschen nicht mehr an das glauben und in Übereinstimmung mit dem handeln, was als systemerhaltende Werte bezeichnet werden kann, auf denen die ununterbrochene Existenz des kapitalistischen Systems basiert. Wenn Menschen nicht mehr an den Werten festhalten, die das System am Laufen halten, hat der Niedergang begonnen.«
Wenn das mal stimmt! – Mit Marx, auf den sich Marcuse ausführlich bezieht, und mit Kritischer Theorie, als deren Vertreter er weiterhin gilt, hat dieser krud idealistische Glaube an die systemerhaltende Kraft irgendwelcher sogenannten Werte jedenfalls nichts zu tun.
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