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20.06.2018, 19:15:48 / Marx 200

»Welch’ Reichtum an neuen Erkenntnissen liegt nun vor!«

Ein Gespräch mit Rolf Hecker. Über die weltweiten Ehrungen für Karl Marx zu dessen 200. Geburtstag, die Bedeutung seines Werkes heute und den Editionsstand bei der zweiten Marx-Engels-Gesamtausgabe
Von Volker Külow
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Marx: »Das Recht auf Arbeit ist im bürgerlichen Sinn ein Widersinn, ein elender, frommer Wunsch.« – Brauereiarbeiter im Oktober 2013 in Shenjang, VR China

Wird Karl Marx anlässlich seines 200. Geburtstages weltweit geehrt?

Es ist eher ein westeuropäisches Phänomen, da Marx in erster Linie Europäer war und seine Theorie der europäischen Aufklärung entsprang. Es gibt aber überall in der Welt Verehrerinnen und Verehrer, und seine Werke werden studiert und ediert – von Brasilien über Indien bis China.

Wie viele Publikationen erscheinen nach Ihrer Schätzung weltweit? In welchen Ländern und welchen Sprachen gibt es die meisten?

Wenn jetzt Publikationen über Marx und seine Theorien gemeint sind, so sind es wirklich sehr viele, vor allem in den europäischen Sprachen, aber auch in Chinesisch oder Japanisch. Wichtiger jedoch scheint mir die Verbreitung von Marx’ Schriften zu sein. So wurde gerade 2017 – der erste Band des »Kapital« war vor 150 Jahren 1867 veröffentlicht worden – festgestellt, dass in einigen Sprachen neue Übersetzungen erschienen, die zu ihrer Grundlage die Texte aus der neuen MEGA, der Marx-Engels-Gesamtausgabe, nehmen, so z. B. in Italienisch und Griechisch, aber auch in Chinesisch. Natürlich ist auch die neue deutsche Textausgabe von Thomas Kuczynski erwähnenswert.

Da verlieren vermutlich sogar Fachleute den Überblick. Gibt es ein Werk, das Sie für besonders innovativ und anregend für unseren Umgang mit Marx im 21. Jahrhundert halten?

Jüngst hat der junge japanische Kollege Kohei Saito, der seine Dissertation 2014 an der Berliner Humboldt-Universität verteidigte, sein Buch unter dem Titel »Natur gegen Kapital. Marx’ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus«, im Campus-Verlag Frankfurt am Main und New York 2016, veröffentlicht. Er zeigt unter Einbeziehung von bisher unveröffentlichten Studienmaterialien aus den 1860/70er Jahren, wie Marx auf ganz moderne Weise den Stoffwechselprozess zwischen Natur und Gesellschaft analysiert hat. Ich glaube, dass die Gestaltung des Verhältnisses von Ökonomie, Ökologie und Gesellschaft entscheidend für die Entwicklung der Menschheit im 21. Jahrhundert werden wird.

Publikationen sind das eine. Es finden aber sicher auch diverse Konferenzen und wissenschaftliche Begegnungen unterschiedlichster Art sowie Ausstellungen statt?

Es ist erfreulich, dass der Hinweis auf Konferenzen nicht nur in Hinblick auf das Ausland gegeben werden kann, sondern auch auf die Bundesrepublik. An einigen Universitäten, von Osnabrück über Oldenburg bis Frankfurt am Main und Trier fanden oder finden selbige statt, deren Ergebnisse sich in Sammelpublikationen niederschlagen werden. Hervorzuheben sind die Ausstellungen in Hamburg zum »Kapital« im Museum der Arbeit, die seit September 2017 wöchentlich rund eintausend Besucher anzog. Und die zu Marx’ Geburtstag in Trier sich öffnende Landesausstellung über die kulturelle und gesellschaftliche Situation im 19. Jahrhundert und die Stationen seines Lebens im Rheinischen Landesmuseum und im Simeonstift.

An welchen Veranstaltungen nehmen Sie persönlich teil?

Neben einigen inländischen Tagungen war ich im vergangenen September zu einer Konferenz an der Londoner Universität und jetzt im April an der Moskauer Hochschule für Ökonomie und an der Pekinger Renmin-Universität Chinas. Gemeinsam war diesen Veranstaltungen eine seriöse Diskussion über das Marxsche Erbe. Einerseits ging es um die Einordnung von Marx in den historischen Kontext, andererseits um die Erklärung unserer globalisierten Welt.

Was ist neu an der überarbeiteten Ausstellung in Marx’ Geburtshaus in Trier?

Da kann man sicherlich gespannt sein – ich werde sie mir nach ihrer Eröffnung anschauen –, da deren Schwerpunkt nach Auskunft der Ausstellungsmacher von der Friedrich-Ebert-Stiftung auf der Wirkungsgeschichte von Marx’ Ideen bis in die Gegenwart liegt.

Gefällt Ihnen die von der Volksrepublik China der Stadt Trier geschenkte Statue?

Ich habe sie noch nicht gesehen, jedoch ist »Gefallen« eine Ansichtssache. Zunächst gab es ja eine interessante politische Auseinandersetzung im Stadtrat von Trier, ob die Statue als Geschenk der Volksrepublik China angenommen wird oder nicht. Das Gremium entschied sich mit übergroßer Mehrheit dafür, und der CDU-Baustadtrat muss die ordnungsgemäße Aufstellung organisieren. Sie wird auch nach ihrer Enthüllung auf dem Platz vor dem Simeonstift immer ein Stein des Anstoßes sein, ein Anlass zur Debatte.

Apropos China: Wie lebendig ist das theoretische Erbe von Karl Marx und Friedrich Engels im »Reich der Mitte«? Bewegt es auch noch die Menschen auf der Straße?

1986 wurde die Veröffentlichung einer neuen chinesischen Werkausgabe in 70 Bänden auf der Grundlage der neuen MEGA beschlossen, bisher sind 29 Bände erschienen. Außerdem liegen die Schriften von Marx und Engels in verschiedenen ausgewählten Ausgaben vor. Das eröffnet die Möglichkeit, den Marxismus von den Fesseln des traditionellen Marxismus-Leninismus zu befreien. 1999 erschien das Buch »Zurück zu Marx« des Nankinger Professors Zhang Yibing. Er forderte, auf den originären Marx zurückzugehen. Er erhielt vielfältige Unterstützung, die in der Forderung mündete, sich von dem stalinistischen, sowjetischen Marxismus zu lösen und zu einem sinisierten Marxismus zu kommen. Dieser neue Marxismus soll natürlich zum »Sozialismus chinesischer Prägung« beitragen. Chinas Präsident und Generalsekretär der KP, Xi Jinping, hat die Gesellschaftswissenschaftler aufgefordert, das »Kapital« verstärkt zu lesen. Junge Menschen an den Unis wenden sich diesem Studium zu, erste Dissertationen in diesem neuen Geist wurden verteidigt. Sicher bewegt das Marxsche Erbe nicht jeden Menschen auf der Straße, aber diejenigen Chinesen, die Trier besuchen, werden die Stadt nicht ohne ein Foto vor Marx’ Geburtshaus verlassen.

Sie sind ein renommierter Marx-Engels-Forscher und arbeiten seit vielen Jahren an der Mitte der 1970er Jahre von DDR und Sowjetunion begonnenen zweiten Marx-Engels-Gesamtausgabe, der MEGA, mit. Sie war nach dem Epochenumbruch 1989/90 stark gefährdet. Wie hat sich dieses ehrgeizige Editionsvorhaben seither entwickelt, und wie zufrieden sind Sie mit dem derzeitigen Stand der Dinge?

Es ist wissenschaftlichen Gremien der Bundesrepublik zu danken, dass die MEGA aufgrund ihres hohen wissenschaftlichen und philologischen Niveaus weitergeführt werden konnte. Beigetragen hat dazu auch eine weltweite Unterstützungskampagne. Die Akademisierung und Internationalisierung hat die Herausgabe der Werke von Marx und Engels erstmals in der Geschichte aus dem Parteirahmen herausgelöst, sie wurde an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften angesiedelt und unter die Leitung der Internationalen Marx-Engels-Stiftung (IMES) gestellt. Mit der Überarbeitung der Editionsrichtlinien wurde auch eine Begrenzung auf 114 Bände erreicht, von denen bisher 66 erschienen sind. Bemerkenswert sind der Abschluss der zweiten Abteilung 2012 und die Herausgabe von Bänden mit Exzerpten von Marx und Engels in der vierten Abteilung, die erstmals veröffentlicht wurden. Hervorzuheben ist die internationale Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen in Amsterdam, Moskau, Sendai und Tokio und mit weiteren Wissenschaftlern weltweit.

Welche Bände werden in nächster Zeit erscheinen? Wo erwarten Sie »Entdeckungen« oder wesentliche Erkenntnisfortschritte?

Ich glaube, dass jeder Band der MEGA spezielle kleine oder große Entdeckungen bereithält, die zu neuen Erkenntnissen über die Entstehungsgeschichte des Marxschen Werks und seiner Rezeption führen. Das betrifft die zweite Abteilung der MEGA mit dem »Kapital« und den vorbereitenden Manuskripten von Marx und Engels. Welch’ Reichtum an neuen Erkenntnissen über das unvollendete Hauptwerk, das »Kapital« liegt nun vor! Dieses Wissen lässt durchaus manch lang diskutierte theoretische Frage in neuem Licht erscheinen. Vor Jahresende 2017 erschien die Neuedition der »Deutschen Ideologie«, bestehend aus 17 Manuskripten und einem Druck von Marx und Engels, die in der Zeit von Oktober 1845 bis Mai 1847 entstanden. Sie hatten unterschiedliche Anlässe der Auseinandersetzung mit Zeitgenossen und sollten in ein Buch- oder Zeitschriftenprojekt münden. In Band drei der Marx-Engels-Werkausgabe (MEW) waren sie als ein Werk ediert.

In den überlieferten Fragmenten entfaltet sich der Gedankenreichtum von Marx und Engels auf der Suche nach einer »wirklichen positiven Wissenschaft«, es ging ihnen um die Darstellung »des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen« (MEW 3, Seite 27). Der Philosoph Michael Quante nennt diese Suche eine »Abkehrbewegung des Marxschen Denkens von den Linkshegelianern«, die zur Ausformulierung einer materialistischen Geschichtsphilosophie führt (»Der unversöhnte Marx. Die Welt in Aufruhr«, Münster 2017, Seiten 26 und 47). In nächster Zeit sind weitere Bände aus der ersten Abteilung zu erwarten, vor allem mit Artikeln aus der Neuen Rheinischen Zeitung und der New York Tribune.

Ist die künftige digitale Publikation von Bänden nicht etwas nutzerunfreundlich?

Nun ja, jede Zeit hat ihre Lesegewohnheiten. Bisher erschien jeder Band der ­MEGA in zwei Teilbänden, mit Ausnahme von zwei Bänden in der vierten Abteilung, die das Studieren des Textes durch die parallele Benutzung des Apparats erleichtern. Künftig werden z. B. die Briefbände ausschließlich digital publiziert, aber nicht als PDF-Dateien, wie man denken könnte, sondern als eine miteinander verknüpfte Datenbank, so dass sich beim Lesen gleichzeitig die Kommentierung verfolgen lässt, wovon sich jeder auf »MEGA digital«, http://megadigital.bbaw.de/index.xql, überzeugen kann. Dort ist bereits der Briefjahrgang 1866 eingestellt worden.

Wenn man das Tempo von ein bis zwei Bänden pro Jahr beibehält, dürfte die Arbeit an der MEGA also voraussichtlich erst in zwei bis drei Jahrzehnten beendet sein. Die kommende Generation wäre dann paradoxerweise so nah wie noch keine vor ihr an Marx dran. Kann man heute schon abschätzen, was das für die Rezeption seines Werkes in der Zukunft bedeutet?

Nach der letzten Evaluierung der MEGA im Jahre 2015 wurde durch die gemeinsame Wissenschaftskonferenz der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften über eine Laufzeit des Projekts bis 2030 entschieden. Das ist eine gesicherte Perspektive für dieses Editionsprojekt. Für die Rezeption des Werkes bedeutet es, dass, wie bereits am Beispiel des Buches von Kohei Saito erwähnt, viel deutlicher die Arbeitsweise von Marx studiert werden kann und so die Komplexität seiner Forschungen sichtbar wird.

War Marx nicht nur ein Globalisierungstheoretiker – wie er oft gerade von bürgerlichen Autoren wahrgenommen und sogar gelobt wird –, sondern auch ein Globalisierungskritiker?

Im Buch »Re: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert«, herausgegeben von Mathias Greffrath (München 2017), finden sich unterschiedliche Sichtweisen auf Marx’ politische Ökonomie versammelt, sehr nachdenkenswert. Wahrscheinlich kennen viele den Satz: »Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.« (MEW 23, Seite 529 f.) Es gilt also, unsere Erde, die Arbeiterinnen und Arbeiter weltweit zu schützen und für gute Reproduktionsbedingungen zu sorgen. Das schließt ein, die Gier des Kapitals zu begrenzen. Es geht nicht um die Globalisierung schlechthin, es geht dabei um die gesellschaftlichen Verhältnisse.

Zum Schluss eine Frage, die Sie wahrscheinlich nicht überraschen wird. Wie wichtig ist aus Ihrer Sicht Karl Marx heute noch für die Linke weltweit? Welche seiner Grundaussagen und Begriffe erachten Sie für weitgehend gültig und aktuell?

Ich habe einiges zu dieser Frage in meinen Text für den sehr schön gestalteten Katalog der erwähnten Ausstellung im Hamburger Museum der Arbeit gepackt. Warum sollen wir nicht – wie Marx – erklären, dass in der abstrakten Arbeit, die den Wert einer Ware produziert, ein gesellschaftliches Verhältnis »versteckt« ist? Warum sollen wir nicht zeigen, dass der Mehrwert nicht im Handel, sondern in der Produktion selbst erzeugt wird? Es geht, wiederum nach Marx, um den entscheidenden Punkt, um den sich das »Geheimnis« der kapitalistischen Produktion dreht – es geht um den Mehrwert, letztlich um Profitmaximierung.

Warum sollen wir nicht von der Krise reden, die eine Unterbrechung des Kapitalkreislaufs darstellt? Marx hat die erste Weltwirtschaftskrise 1857 sehr genau studiert und einige seiner Prognosen revidiert, wie die der folgenden Revolution oder diejenige über die Dauer des ökonomischen Zyklus. Und Marx hat in seinen Studien in den 1870er Jahren sogar versucht, Profitrate und Produktionszyklen mathematisch zu berechnen. Er formulierte keine Bedingungen oder Gesetze für eine neue, sozialistische Gesellschaft; er beschränkte sich auf wenige Kriterien, wie das bekannte: »In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knech­tende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« (MEW 19, Seite 21)

Heute geht es – wie im langen Kampf der Arbeiterbewegung – um soziale Gerechtigkeit. Um eine Gesellschaft, die eine Verteilung des Reichtums so organisiert, dass möglichst alle ihrer Mitglieder daran gleichberechtigt partizipieren können.

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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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