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21.06.2018, 19:22:40 / Marx 200

Papakind par excellence

Eva Weissweilers neue Biographie über »Lady Liberty«, Marx’ jüngste Tochter Eleanor
Von Klaus Gietinger
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»Man fiebert mit ihr«: Eleanor Marx (1855 – 1898)

Als seine dritte Tochter Eleanor 1855 im Elend von London-Soho zur Welt kam, schrieb Karl Marx seinem Freund Friedrich Engels bedauernd, das Neugeborene sei leider nur vom »Sex par excellence«. Drei Monate später starb der geliebte achtjährige Edgar, genannt Musch. In der engen Zwei-Zimmer-Wohnung herrschte Weltuntergangsstimmung. Marx verhätschelte seine jüngste Tochter, sie wurde zum Papakind par excellence. Ein Jahr später gelang mit Engels’ Hilfe und einer Erbschaft der Aufstieg in ein besseres Viertel. Eleanor, genannt Tussy (was damals noch kein Schimpfwort war), entwickelte sich prächtig.

Jenny und Karl Marx ließen ihren Töchtern viel Freiheit, unterrichteten sie. Tussy begeisterte sich mit sechs für Abraham Lincoln und die Sklavenbefreiung, bot in einem Brief ihre Hilfe an. Mit 14 besuchte sie Engels, den General, und dessen Lebensgefährtin, die irische Proletarierin Lizzy Burns, in Manchester, begeisterte sich für Lizzys Freiheitskampf, fuhr mit beiden nach Irland, erlebte gewaltige Demonstrationen und Polizeigewalt. Sie war 16, als sie ihrer Schwester Jenny in Bordeaux zu Hilfe kam; deren Mann Charles Longuet fand den Kampf für die Kommune wichtiger als Weib und krankes Kind. Die drei Schwestern flohen, wurden verhaftet, kamen wieder frei. Auf der Überfahrt schäkerte Tussy rauchend mit Matrosen.

Alle drei Schwestern verliebten sich in Franzosen, Kommune-Kämpfer im Londoner Exil. Marx sah dies gar nicht gern. Als sich Tussy in einen feschen Chronisten der Kommune, Prosper-Olivier Lissagaray, verkuckte, kam es zum Kampf mit dem Vater.

All das schildert Eva Weissweiler in ihrem kurzweiligen Buch »Lady Liberty«. Die Schriftstellerin, Historikerin und Musikwissenschaftlerin hat ihre 2002 erschienene Tussy-Marx-Biographie umgeschrieben und aktuellste Forschungen aufgenommen, so dass praktisch ein neues Werk entstanden ist. Vieles ist dramaturgisch gestrafft, die Kapitel sind neu strukturiert. Manches ist schärfer, anderes moderater formuliert. Nebenepisoden, besonders aus der irischen und russischen Untergrundszene, sind weggelassen, weil sie den Fluss bremsten.
Anderes wurde neu eingefügt, die Beziehungstragik zurückgefahren. Tussy spricht mehr als Autorin, Übersetzerin und Politaktivistin. Dabei halfen Weissweiler alte sozialistische Zeitungen, englische und deutsche, die 2002 kaum zu bekommen waren und jetzt online zugänglich sind. Hintergründe des amerikanischen Bürgerkriegs, der Pariser Kommune und der Entstehung des englischen Frauengewerkschaftswesens sind deutlicher herausgearbeitet. Weitere Ergänzungen lieferten Publikationen wie eine von Angelika Limmroth und Rolf Hecker bestens edierte Briefausgabe (»Jenny Marx, Die Briefe«, erschienen 2014 bei Dietz, Berlin) oder die japanisch-englisch-deutsche Dokumentation von Izumi Omura u. a. zur Herkunft Fredericks, »Karl Marx is my father« (Tokio 2011, mit den Testamenten von Engels und Tussy). Ein rundum spannendes Buch auf dem Stand der Forschung. Man fiebert mit Tussy.

Der Vater nimmt sie 1873 mit zur Kur nach Karlsbad, um sie abzulenken. Tussy versucht sich selbständig zu machen, wird Lehrerin an einem Internat (Boarding-school) für viktorianische Mädchen. Mit 19 fängt sie als Übersetzerin an. Sie wird – nie richtig anerkannt – viele bedeutende Werke, auch das Wichtigste ihres Vaters, übersetzen, als Korrespondentin arbeiten, die Kinder ihrer Schwestern betreuen. Schauspielerin will sie werden, und kämpft gegen die Missachtung der Frauen auch in der sozialistischen Bewegung. Die enge Beziehung zu Old Nick (Papa Marx) ist ihr immer wieder im Wege. Sie lernt George Bernard Shaw kennen, frisst sich, wie ihr Vater, im Reading Room des British Museum fest, leidet unter Ohnmachtsanfällen, Magersucht, Depressionen. Schwester Lauras Kinder sterben, schließlich die Mutter, Schwester Jenny und 1883 der Vater.

Dann lernt sie Edward Aveling kennen, eine Art Mephistopheles, verheiratet, immer blank, der sie ausnutzt, betrügt und von dem sie nicht loskommt. Sie versucht, das Werk ihres Vaters fortzusetzen, wird zur bejubelten Agitatorin, bewegt die Arbeitermassen, besonders die Arbeiterinnen, bezeichnet sich als Jüdin, reist mit Wilhelm Liebknecht und Aveling in die USA, wo man sie als »Lady Liberty« bewundert, kämpft um das Erbe ihres Vaters, für die Befreiung der Frauen, streitet sich mit Laura und ihrem Ersatzvater Engels, freundet sich mit ihrem verfemten Halbbruder Frederick an und wird doch nicht glücklich.

Ein faszinierendes, leicht lesbares, nie langweiliges Buch über eine faszinierende Frau, deren Liebe zu ihrem Übervater und zu einem kleinen Teufel neben der Ignoranz auch der sozialistischen Männer die wirkliche Entfaltung ihrer Persönlichkeit verhinderten.

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