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20.09.2021, 12:38:06 / Rosa-Luxemburg-Konferenz 2018

»Häute mit Narben«

Ibrahim Mahama entlarvt die Heuchelei der bürgerlichen Gesellschaft. Der Künstler ist zu Gast auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin
Von Susann Witt-Stahl
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Documenta-Performance »Check Point - Prosfygika« auf dem Syntagma-Platz in Athen (April 2017)

Der ghanaische Künstler Ibrahim Mahama interessiert sich für »stark historisch geprägte Gebrauchsgegenstände« gesellschaftlicher Arbeit. Jutesäcke sind das wichtigste Gestaltungsmaterial seiner als »künstlerische Intervention in das bestehende Produktionssystem« zu verstehenden Werke: Flexible Transportbehälter, in denen sich die Geschichte des Welthandels materialisiert, weil in ihnen Produkte wie Kakao oder Bohnen zwischen Lagerhäusern, Märkten, Städten und Kontinenten hin und her bewegt werden.

Mahama verhängt Gebäudefassaden mit riesigen Schleiern aus zusammengenähten Jutesäcken. 2016 hatten aus seinem Heimatland stammende Migranten ein solches Monstrum für die Kunsthal Charlottenborg in Kopenhagen fertiggestellt – ein Prozess kollektiver Arbeit, der rund zwei Jahre dauerte. Der Werktitel »Nyhavn’s Kpalang« setzte sich aus dem Namen des Hafens der Hauptstadt Dänemarks »Nyhavn« und dem Wort »Kpalang« zusammen, das auf Dagbani, der Sprache des Dagomba-Volkes im Norden Ghanas, sowohl »Sack« als auch »Fleisch« bedeutet und auf das Naturmoment, das Elementare jeglicher Arbeit verweist. Die Jutesäcke »erzählen uns etwas über die Hände, die sie anheben«, so Mahama. »Wer webt, verpackt, belädt und transportiert, hinterlässt auch seinen Schweiß, seinen Namen, Daten und andere Koordinaten«, erinnert Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, der mehrere Projekte von Mahama kuratiert hat, an das Wesen, das nach Marx durch den Einsatz der seiner Leiblichkeit angehörenden Naturkräfte, Kopf, Arme, Hände und Beine, die Naturstoffe in die für sein Leben nötige Form bringt und sich damit selbst erschafft, aber mehr und mehr hinter dem stetig expandierenden Selbstverwertungsprozess des Kapitals verschwindet: der Mensch. Im Zentrum von Mahamas Schaffen steht der gestern wie heute Kolonialherrschaft unterworfene. Die von ihm verarbeiteten Säcke seien »Häute mit Narben«, sagt Bonaventure Soh Bejeng Ndikung. Vor allem dienten sie Mahama als »forensische Beweismittel bei seiner Suche nach Manifestationen kapitalistischen Wirtschaftens in der Welt« und Mittel zur Sichtbarmachung »lokaler Bezüge innerhalb der internationalen Arbeiterklasse«.

Der 1987 in Tamale, der Hauptstadt der Nordregion Ghanas, geborene Künstler besuchte die renommierte Kwame-Nkrumah-Universität in Kumasi und setzte sich zunächst mit der Collagentechnik von Robert Rauschenberg auseinander, einem Wegbereiter der US-amerikanischen Pop Art. Vor rund fünf Jahren vollzog Mahama einen Wandel und begann, zunächst mit Gipsabdrücken von seinem eigenen Körper, sich historisch-materialistischen Konzepten zu nähern. 2012 breitete er über einen ständig präsenten riesigen Holzkohlestapel auf dem Mallam Atta Market in Accra zum ersten Mal einen Jutesackteppich aus.

Mittlerweile sorgt der »Christo Afrikas« (im Gegensatz zu dem berühmten Verpackungskünstler geht es Mahama allerdings nicht um eine jeglicher Erkenntnisinteressen und Normen entledigter Ästhetisierung der Lebenswelt) mit seinen Arbeiten weltweit für Aufsehen: auf der 56. Biennale in Venedig 2015; 2016 im Tel Aviv Museum of Art. Im Februar 2017 wurde in der Londoner White-Cube-Galerie seine erste große Einzelausstellung eröffnet mit Installationen aus Hunderten von Holzboxen der Schuhputzer und originalen Ledersitzen aus den Zügen in Ghana. Im Sommer war er auf der Documenta 14 in Athen und Kassel vertreten.

Mahama will mit seinen Arbeiten, wie er in einer Kolumne der aktuellen Ausgabe der Kulturzeitschrift M&R betont, »stets in Erinnerung rufen, in welchem Maße neokoloniale Kräfte die Weltpolitik bestimmen«. Indem er aus Produktionsmitteln, die als zirkulierendes konstantes Kapital in Afrika und anderen Ausbeutungszentren der Welt lebendige Arbeit einsaugen, Kunstwerke schafft, entlarvt er nicht nur die Heuchelei der bürgerlichen Gesellschaft und die nicht von ihr zu trennende Barbarei. Er klagt darüber hinaus eine ganz andere Produktionsweise ein, die endlich allen, auch jenen, die bis heute »durch Blut und Schmutz, durch Elend und Erniedrigung« geschleift werden, wie Marx über die Kolonisierten schrieb, das Menschenrecht garantiert.

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