Schulter an Schulter
Von Selma SchachtIm Herbst 2015 schien es, als habe sich das offizielle Österreich für kurze Zeit in ein humaneres Mäntelchen gekleidet. Zehntausende Flüchtlinge erreichten österreichischen Boden, wurden an der Grenze und in den Bahnhöfen der großen Städte von etablierten wie auch spontan gegründeten Hilfsorganisationen und Tausenden freiwilligen Helferinnen und Helfern in Empfang genommen. Innerhalb weniger Wochen wurden eine, für hiesige Verhältnisse riesige, Großdemonstration mit über 70.000 Menschen unter dem Motto »Flüchtlinge willkommen – für eine menschliche Asylpolitik« und ein Solidaritätskonzert »Voices for Refugees« am geschichtsträchtigen Heldenplatz mit über 150.000 Menschen auf die Beine gestellt.
Doch kehrte die Alpenrepublik nach der Einführung der Grenzkontrollen durch Deutschland und dem damit verbundenen Ende des einfachen »Durchwinkens« der Flüchtlinge wieder zur repressiven »Normalität« zurück. Die sozialdemokratisch angeführten großen Koalitionen hatten in den Jahren zuvor das Asyl- und Fremdenrecht fast im Halbjahresrhythmus massiv verschärft. Die Balkanroute wurde geschlossen, am Grenzübergang Spielfeld zum Nachbarland Slowenien bereits zuvor ein Zaun erbaut, das Bundesheer zum Assistenzeinsatz an die Ost- und Südgrenzen abkommandiert. »Obergrenzen« wurden beschlossen, ein »Asyl auf Zeit« eingeführt und die Familienzusammenführung erschwert. Die inhumane Rechtsprechung gipfelte im Beschluss einer »Notverordnung«, die argumentierte, dass die öffentliche Ordnung und innere Sicherheit Österreichs durch die hohe Zahl an Flüchtlingen gefährdet sei, weshalb es erlaubt sei, Asylanträge direkt an der Grenze abzulehnen.
Die rechte Haltung und menschenfeindliche Politik der Kanzlerpartei SPÖ hat auch dazu geführt, dass keinerlei progressiven Aspekte des Flüchtlingsthemas zur Debatte standen, sondern öffentlich die demagogischen Positionen der erzreaktionären bis rechtsextremen Parteien und Medien dominierten. Die logische Folge war ein Erstarken der Rechten und nun eine ebensolche schwarz-blaue Regierung aus ÖVP und FPÖ. Diese sieht in ihrem Programm drastische Verschärfungen der ohnehin schon unmenschlichen restriktiven Asylbestimmungen sowie eine ganze Palette an zusätzlichen Einschränkungen, Schikanen und Entwürdigungen gegen Schutzsuchende vor, gepaart mit einem tief gestaffelten System der Abschottung und einer forcierten Militarisierung der Außengrenzen. Die Themen Asyl, Migration und Sicherheit werden zudem absichtlich in einen Topf geworfen und unter Vorbeten des Mantras von »Law and Order« zu einem xenophoben und repressiven Brei verrührt.
Ursachen benennen
Parallel dazu sprechen zwar fast alle politischen Akteure von der Notwendigkeit, die Fluchtursachen zu bekämpfen, ohne aber den systemimmanenten Zusammenhang und die sich gegenseitig und hochschaukelnden Ursachen von Kriegen, bewaffneten Konflikten, Wirtschaftskrise, neokolonialen Handelsbeziehungen, struktureller Gewalt, Armut und sich verschärfenden Klimakatastrophen zu benennen. In Europa werden die Menschen, die vor Elend und Hungertod, vor Krankheiten und Umweltzerstörung fliehen, als »Wirtschaftsflüchtlinge« delegitimiert. Doch es sind der Entzug der Lebensgrundlage, die Ausbeutung und der Ruin ihrer Länder durch das europäische Kapital und die imperialistischen Zentren, die die Menschen zur Flucht veranlassen. Auch mit dieser Verantwortung ist umzugehen, selbst wenn keine klassischen Asylgründe im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (welche also zu erweitern wäre) vorliegen.
Es sind dieselben kapitalistischen Metropolen, die Krieg, Elend und Hunger in der Welt verbreiten, die den Menschen die Flucht verwehren, die sich abschotten – auch um den Preis Tausender Toter an den EU-Außengrenzen bzw. im Mittelmeer (und von wesentlich mehr in den betroffenen Ländern). Will man die Fluchtursachen tatsächlich bekämpfen und nachhaltig beseitigen, muss man das kapitalistische Globalsystem mit seinen ihm eingeschriebenen Aggressions- und Ausbeutungsverhältnissen sowie Verheerungsprozessen überwinden. Bis dahin stehen die westlichen Metropolen als hauptsächlicher Verursacher auch in der Pflicht, sichere Fluchtmöglichkeiten zu schaffen, möglichst viele Flüchtlinge aufzunehmen, diese menschenwürdig unterzubringen und ihnen Perspektiven zu eröffnen.
In der österreichischen Linken finden sich mannigfache Positionen zu den Themen Migration und Asyl, von der oft undifferenzierenden Forderung nach »offenen Grenzen für alle« über den Einsatz für liberale Asylregelungen und eine fortschrittliche Regulierung des Arbeitsmarkts bis hin zu Phantasien von Abschottung aufgrund von »Überlastung« und »Schutz heimischer Arbeitsplätze«. Während zivilgesellschaftliche Initiativen – mit dabei auch viele engagierte Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter – tagtäglich das Versagen öffentlicher Stellen auszubügeln versuchten, indem sie sich um Unterkunft, Essen, Sprachunterricht und überhaupt ein Mindestmaß an menschlichem Umgang kümmerten und politische Bündnisse im Wochen- und Monatstakt Proteste und Aktionen gegen Gesetzesverschärfungen und Abschiebungen organisierten, leistete sich beispielsweise der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) in sozialpartnerschaftlicher Manier und voller Regierungshörigkeit eine Stellungnahme zur Asylrechtsänderung, die sich gewaschen hatte: »Allerdings ist darauf zu achten, dass die Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge mit den wirtschaftlichen, infrastrukturellen und sozialen Rahmenbedingungen in Einklang zu bringen ist (…), dass die relevanten Systeme (…) gesichert und vor Überlastung geschützt werden (…) Vor diesem Hintergrund verstehen ÖGB und BAK (Bundesarbeitskammer, d. Red.) die Bemühungen der Bundesregierung, auf nationaler Ebene für eine Entlastung zu sorgen.« Wenn Asylrecht und Migration vermischt und vorrangig unter dem Gesichtspunkt ihres volkswirtschaftlichen »Nutzens« für »den Standort« bewertet werden, dann ordnen sich sozialpartnerschaftliche Gewerkschaften wieder einmal dem neoliberalen Mainstream unter. Statt den Gegensatz zwischen Arm und Reich, oben und unten zu thematisieren, wird der Unterschied von hier und dort, von »autochthon« und »fremd« hochgespielt.
Doch Lohndumping, Ausgliederungen, Privatisierungen, Subunternehmertum, Prekarisierung usw. gab es auch schon vor den großen Fluchtbewegungen. Und es sind auch nicht die neu gekommenen Kolleginnen und Kollegen, sondern die »alten« hiesigen Unternehmer und das Kapital und sein politisches Personal, welche die Behandlung von Asylbewerberinnen und -bewerbern als Experimentierfeld für die Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen aller Menschen im Land ansehen und Migrantinnen und Migranten als Billiglöhner missbrauchen.
Eine Regulierung des Arbeitsmarktes statt neoliberaler Marktöffnung heißt eben nicht, Grenzzäune hochzuziehen, sondern gegen jegliche diskriminierende Regelungen aufzutreten. Beispiel: Entsenderichtlinie. Gleiches Entgelt und gleiche Rechte für alle muss die Devise sein!
In der hiesigen Linken stellt die jeweilige Position zur Europäischen Union eine der schärfsten Trennlinien dar. Von der SPÖ und den Gewerkschaften über die Grünen bis zur KPÖ wird an der Mär der Möglichkeit einer »sozialen und ökologischen EU« als »Friedensunion« festgehalten. Eine kritische, ablehnende bis systemüberwindende Sichtweise wird beständig als nationalistisch diskreditiert und solche Positionen in die rechte Ecke gestellt. Doch die Orientierung am Europa der Konzerne, der Banken und des Militärs verhindert gerade eine internationalistische und revolutionäre Perspektive – ausgehend von Klassenkämpfen einer geeinten Arbeiterklasse unabhängig von Pass, Sprache und Aufenthaltsstatus; beginnend mit Kämpfen im nationalen Rahmen für eine progressive Wende im Sozialen, im Gesundheitsbereich, im Bildungswesen, gegen den Militarismus und im Fall von Österreich für die Verteidigung bzw. Wiedererlangung der Neutralität.
Keine armen Hascherln
Die Arbeiterklasse, das gilt es endlich zu begreifen, ist objektiv multiethnisch. Logische Folge ist also, dass auch Geflüchtete und Migrantinnen und Migranten, egal ob »legal« oder »illegal«, anhand ihrer Stellung in den gesellschaftlichen Verhältnissen überwiegend auch Teil der Arbeiterklasse sind – und es insofern auch kein »Wir« und »Die« geben kann und darf. Insofern haben auch alle Organisationen, welche die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt ansehen, so angelegt zu sein und danach zu streben, diese Gleichstellung und Gleichbehandlung auch in der Realität – bei ihrer Themensetzung, hinsichtlich ihrer Funktionärinnen und Funktionäre, ihrer Kampffelder, Publikationen usw. umzusetzen.
Migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter sind keine armen Hascherln, sondern bringen – auch wenn es natürlich widersprüchliche Tendenzen gibt – oft viel Kampferfahrungen, (gewerkschaftlichen) Aktivismus, linke Ideen bzw. eine migrationsbedingte Widerstandskraft mit. Die Kolleginnen und Kollegen dürfen mitnichten bloß als defiziente Empfänger unserer Solidarität, sondern müssen als aktiv handelnde politische Subjekte wahr- und ernst genommen werden. Inklusion ist die gleichberechtigte (politische, soziale, bildungsmäßige) Partizipation. Das bedeutet auch, gleichberechtigt auf Augenhöhe zu kämpfen!
Eine Einbindung und Aktivierung migrantischer Arbeiterinnen und Arbeiter setzt den Kampf gegen sozialpartnerschaftliche Vertretungsformen und gewerkschaftliche Hierarchien (»wir für euch«) voraus. Entscheidend ist also auch unsere gemeinsame Fähigkeit, am eigenen Arbeitsplatz, in den Gewerkschaften und über die Branchen hinweg kollektiv Widerstand zu organisieren und die Kämpfe Schulter an Schulter zu führen!
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
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