Der Hitler in uns
Von Kai KöhlerVieles, was heute gedacht wird, wurde bereits früher einmal gedacht, und manchmal sogar besser. Darum sind neue Ausgaben von Texten wie Aimé Césaires »Über den Kolonialismus« willkommen. Die 1950 geschriebene, 1955 erweitert vorgelegte Polemik hat an Aktualität nichts verloren.
Césaire, 1913 auf Martinique geboren, war einer der wenigen schwarzen Jugendlichen, denen die französische Kolonialmacht eine gute Ausbildung zugestand. Er nutzte die Kenntnisse, die er so erwarb, um sich gegen die Unterdrücker zu wenden. Von der Brillanz seines Französisch vermittelt der Übersetzer Heribert Becker mehr als nur eine Ahnung: Der mal ironische, mal aggressive Gestus der Sprache ist in den deutschen Wendungen gut erkennbar.
Tatsächlich ist es eine üble Bande, die Césaire den Stoff für sein Buch liefert. Die Großen der französischen Kulturgeschichte wie auch zeitgenössische Parlamentsabgeordnete bevölkern ein Panoptikum, in dem alle Formen des Rassismus ihren Platz finden: von der weißen Herrenmenschenphantasie über vermeintlich zivilisierende Fürsorge bis hin zu der exotistischen Verharmlosung der »Negerkultur« als besonders spirituell – auf dass die Kolonialisierten bloß nicht auf die Idee kommen, materielle Interessen einzufordern.
Sicherlich formulieren heute die Ideologen des Neokolonialismus vorsichtiger. Zwar findet sich immer noch das vermeintliche Lob für die »Primitiven«, die man vorsichtshalber nicht mehr so nennt: Sie seien näher an der Natur und damit glücklicher als der westlich zivilisierte Bürger. Aber die politischen Phrasen kommen heute technokratisch daher. Liest man indessen Césaire, so ist es gar nicht mehr schwierig, die aktuellen Phrasen von »Marktöffnung« und »good governance« zu durchschauen. Man kann das Pamphlet auch ohne den ausführlichen Stellenkommentar gut lesen.
Über die Einzelkritik hinaus treibt Césaire seine Kritik des Kolonialismus ins Grundsätzliche. Die Kolonialherrschaft wirke auch zurück auf den, der sie ausübe. Europa sei »geistig und sittlich unhaltbar« geworden. Er schreibt, was 1950, fünf Jahre nach dem Sieg über den Faschismus, in einem der Siegerländer eine kaum überbietbare Provokation gewesen sein muss: Hitler habe in Europa und an Europäern verübt, was zuvor außerhalb Europas Praxis gewesen sei. Jedem »ach so humanistischen, ach so christlichen Bourgeois des 20. Jahrhunderts« gelte es begreiflich zu machen, »dass er selbst einen Hitler in sich trägt« und es Hitler nur nicht verzeihe, seine Verbrechen gegen weiße Menschen gerichtet zu haben.
Hier ließe sich einwenden, dass der Kolonialismus ohne Rücksicht auf den möglichen Tod seiner Opfer Kriege führt und ausbeutet, anders aber als der deutsche Faschismus nicht auf die Ausrottung einer zum Feind erklärten Rasse zielt. Das Gemeinsame jedenfalls, auf das es Césaire ankommt, ist der Kapitalismus. Hitler gilt ihm, in einer schönen Metapher, als das »Vergrößerungsglas«, durch das der Zustand des »nach seinem Überleben trachtenden Kapitalismus« gesehen werden kann. Und so nennt Césaire als die einzige Klasse, »die noch eine universale Aufgabe hat«, nämlich die »engstirnige Tyrannei einer entmenschlichten Bourgeoisie« zu beseitigen, das Proletariat.
Césaire bezieht sich hier auf eine Universalgeschichte, auf eine Entwicklung der Menschheit als Ganze. Dem steht nur bedingt entgegen, dass er die »um ihre Identität gebrachten Gesellschaften«, die »niedergetrampelten Kulturen« beklagt: denn dieser Satz endet in der Trauer um die »vereitelten großen Möglichkeiten«, »Möglichkeiten« sogar kursiv hervorgehoben. Es geht ihm nicht um das jeweils besondere Volk, das unbedingt sein Eigenes zu bewahren habe, sondern um Chancen der Entwicklung, um Beiträge für die Menschheitsgeschichte, die der Kolonialismus gerade verhindert habe.
Ein Problem bleibt. Fragwürdig ist das Lob der vorkolonialen Welt: »Es waren demokratische Gesellschaften – immer«, oder gar: »genossenschaftliche, brüderliche Gesellschaften«. Das ist antikolonialer Trotz. Es lassen sich Beispiele genug nennen, wo wenige Kolonialisten siegten, weil irgendeine unterdrückte Gruppe die Illusion hatte, mit deren Hilfe sich zu befreien. Der Kolonialismus konnte seine neuen Schrecken oft auch deshalb verbreiten, weil er zuerst als Alternative zu alten Schrecken erschien und weil er stets Kollaborateure fand und findet.
Fragwürdig ist auch die Kritik der europäischen Zivilisation als krank und verrottet. Dies stimmt, insofern ihr Humanismus der Rechtfertigung kolonialer Verbrechen diente. Gleichzeitig stimmt es nicht, denn die antikapitalistische Kritik, auf die sich Césaire stützt, ist eben die materialistische Konsequenz des universalistischen europäischen Humanismus. Die Kritik richtet sich damit gegen ihre eigene Grundlage.
Auch in solchen Widersprüchen erweist sich Césaires Kolonialismuskritik als aktuell – schließen doch die dümmeren Vertreter des Postkolonialismus mit ihrem undurchdachten Lob der Vielfalt an die fragwürdigsten Passagen dieses Werks an. Auch in diesem Fall liest man besser das Original. Stärker als Césaires Lob der vorkolonialen Gesellschaften, das zu einer exotistischen Begeisterung fürs Fremde verführen kann, ist sein Argument, dass gerade der Kolonialismus den Prozess der Zivilisierung verhindert. Die koloniale Heuchelei behauptet zwar das Gegenteil – doch kann sich über Heuchelei nur derjenige so beredt wie Césaire empören, der die nur vorgeschobenen Werte im Ernst verteidigt. Es waren glücklichere Zeiten, in denen die Hoffnung bestand, die sozialistische Zivilisierung der Welt zu erleben.
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