Ein Lied für den Frieden
Von André Scheer, CaracasSeit Freitag morgen, 48 Stunden vor Öffnung der Wahllokale, herrschen in Venezuela erhöhte Sicherheitsbestimmungen, um eine Destabilisierung der Lage bis zum Wahltag zu verhindern. In allen Geschäften ist der Verkauf von alkoholischen Getränken verboten, Bars sind geschlossen und auch kulturelle Großveranstaltungen dürfen eigentlich nicht stattfinden.
Doch die Jugend der Hauptstadt Caracas findet Wege, sich darüber hinwegzusetzen – und „klammheimlich" hilft ihnen der Staat dabei. Ohne öffentliche Werbung, nur durch Mund-zu-Mund-Propaganda informiert, fanden sich am Freitag abend in „PDVSA La Estancia" Hunderte Jugendliche zu einem Open-Air-Konzert zusammen, bei dem fünf Bands ihre gemeinsame Tournee „Aire Libre" abschlossen. Die Polizei beschränkte sich darauf, die Besucher zu kontrollieren und zu verhindern, daß Getränkeflaschen oder Feuerzeuge mit auf das Gelände geschmuggelt wurden. Zu den bekanntesten Gruppen auf der großen Bühne mit ausgefeilter Videoshow im Hintergrund gehörten die jW-Lesern zum Beispiel von der diesjährigen „Fiesta de Solidaridad" im Juli in Berlin bekannten Jungs von „Dame Pa' Matala". Hier hatten sie ein Heimspiel: die Besucher sangen die Lieder lauthals mit und bejubelten die Statements von Pedro Blanco und Willian Alvarado, die knapp an verbotenen Wahlkampfstatements vorbeischrammten : „In Venezuela herrscht kein Krieg! Laßt euch nicht aufhetzen! Wir sind ein Erdölland, aber wir sind ein Land, in dem Frieden herrscht!" Ihre programmatische Hymne „Canto por la Paz" (Lied für den Frieden) wurde begeistert aufgenommen, ebenso wie der Aufruf, am Sonntag wählen zu gehen. Dabei ließen die Bandmitglieder keinen Zweifel daran, welchem Kandidaten ihre Präferenz gilt: „Ich darf den Namen nicht sagen, aber Ihr wißt schon, wen ich meine!"
„PDVSA La Estancia" ist ein ausgedehntes Parkgelände mitten im Oberschichtviertel Altamira. Während draußen der Oppositionskandidat Henrique Capriles Radonski von den Wahlplakaten lächelt, finden drinnen Ausstellungen, Workshops und eben Konzerte statt. Auch die Zukunft dieses Kulturzentrums, das aus den Einnahmen des staatlichen Erdölkonzerns finanziert wird und dessen Veranstaltungen deshalb praktisch immer bei freiem Eintritt stattfinden, steht am Sonntag auf dem Spiel. Bis etwa 2003, als Venezuelas Regierung der Opposition die Kontrolle über den Ölkonzern entreißen konnte, war das Gelände für die normale venezolanische Bevölkerung kaum zugänglich. Hier gaben sich die Herrschaften der „oberen Zehntausend" ein Stelldichein, die sich etwas besseres als die armen Schlucker dünkten. Der inzwischen in „La Estancia" eingezogene Trubel ist ihnen bis heute suspekt. Chávez-Plakate sieht man hier kaum in den Fenstern, im Gegensatz etwa zum Zentrum der venezolanischen Hauptstadt. Mißtrauisch beäugte so mancher Bewohner aus den umliegenden Hochhäusern das lautstarke Treiben im Park, so daß Willian Alvarado eines seiner Lieder „besonders unseren zuschauenden Nachbarn" widmete.
An der Jahreswende 2002/2003 hatte das damalige Management des Ölgiganten PDVSA versucht, durch ein Stoppen der Erdölförderung die Regierung von Hugo Chávez ökonomisch zu erdrosseln. Das scheiterte an der breiten Mobilisierung der Bevölkerung und des Militärs, die gemeinsam die Raffinerien beschützten. Einfache Arbeiter und auch bereits Pensionierte ignorierten die Streikaufrufe ihrer Chefs und hielten den Betrieb aufrecht. Hinzu kam die internationale Solidarität etwa Brasiliens, das Lieferverpflichtungen Venezuelas übernahm, um Caracas dadurch Vertragsstrafen zu ersparen. Nach dem Scheitern dieser Sabotage, die als „Ölputsch" in die venezolanische Geschichte eingegangen ist, hatte die Regierung die arbeitsrechtliche Handhabe, die obersten Manager zu feuern. So konnte der riesige Wasserkopf des Konzerns in Caracas abgebaut werden. Die freiwerdenden Verwaltungsgebäude wurden neuen Zwecken zugeführt. Während das Management in das Gebäude des Erdölministeriums zog, wurde die bisherige Konzernzentrale zum zenralen Sitz der Bolivarischen Universität, die seither Venezolanern aus den ärmeren Bevölkerungsschichten den Zugang zu einem Hochschulstudium ermöglicht. Das alles will die Opposition zurückdrehen, wie sie kaum verklausuliert in ihrem Wahlprogramm ankündigt.
Im Gespräch mit junge Welt zeigte sich Willian Alvarado deshalb besorgt über die Entwicklungen am Sonntag: „An eine so angespannte Stimmung kann ich mich nicht erinnern." Selbst 2002/2003 sei die Atmosphäre anders gewesen: „Damals waren wir alle eher überrascht über das, was in unserem Land passiert. Jetzt aber schüren einige Elemente offen den Haß." So bekomme er seit Wochen per E-Mail und über Twitter Morddrohungen: „Wir wissen, wo du wohnst!" Das sei in den vergangenen Jahren nie passiert.
Trotzdem zeigt sich Alvarado optimistisch, daß Venezuela ein friedliches Land bleibt. Er geht fest von einem Wahlerfolg des amtierenden Staatschefs aus und will – ebenso wie seine Bandkollegen – das seinige zu diesem Ergebnis beitragen. Am Samstag nehmen alle die mehrere Hundert Kilometer lange Fahrt in ihre Heimatorte auf sich, um am Sonntag wählen zu können. Briefwahl gibt es in Venezuela nicht. „Niemand darf am 7. Oktober zu Hause bleiben!" riefen sie am Freitag auch den Konzertbesuchern zu.
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