Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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13.01.2012, 20:40:35 / Wir verändern die Welt

Debatte. Die E-Frage. Sozialismus ist mehr als der Kampf gegen die Barbarei

Von Georg Fülberth

Beginnen wir mit dem berühmten Zitat von Rosa Luxemburg aus der Juniusbroschüre von 1916: »Friedrich Engels sagte einmal: Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma: entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei.«1

Hier stimmt etwas nicht. Das Engels-Zitat ist nicht belegt. Es ist sogar unwahrscheinlich, daß der Mitbegründer des historischen Materialismus vor der Barbarei warnte. Zu ihr hatte er nämlich kein negatives Verhältnis. Ausweislich seiner Schrift »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats« von 1884 war sie – als Gentilgesellschaft – eine historische Periode zwischen zwei anderen: »Wildheit« und »Zivilisation«.2 Der Übergang zu letzterer war für ihn ein Fortschritt, aber ein problematischer: Es entstanden die patriarchale Familie, das Privateigentum und der Staat, die irgendwann, im Verein freier Menschen, wieder abzuschaffen sind. Als Engels 1893 die Ersetzung der stehenden Heere durch eine Miliz vorschlug, wollte er sogar wieder zurück zur Wehrorganisation der Gentilgesellschaft.

Tatsächlich hatte Rosa Luxemburg bei der Beschreibung der Katastrophe von 1914ff. nicht die prähistorische Barbarei im Sinn, sondern die Gegenwart und eine Analogie aus der schriftlich überlieferten Geschichte, mithin zwei Beispiele aus der Geschichte der Zivilisation, wenngleich, wie gezeigt, unter falschem Namen: »Dieser Weltkrieg – das ist ein Rückfall in die Barbarei. Der Triumph des Imperialismus führt zur Vernichtung der Kultur – sporadisch während der Dauer eines modernen Krieges, und endgültig, wenn die nun begonnene Periode der Weltkriege ungehemmt bis zur letzten Konsequenz ihren Fortgang nehmen sollte. Wir stehen also heute, genau wie Friedrich Engels vor einem Menschenalter, vor vierzig Jahren, voraussagte, vor der Wahl: entweder Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur, wie im alten Rom, Entvölkerung, Verödung, Degeneration, ein großer Friedhof. Oder Sieg des Sozialismus, das heißt der bewußten Kampfaktion des internationalen Proletariats gegen den Imperialismus und seine Methode: den Krieg.«3

Barbarei ist für sie demnach eine Metapher für einen Zivilisationsbruch, und das ist schon wieder etwas schief, denn letzterer ist keine Regression, sondern etwas Modernes. Das hat Engels tatsächlich vorhergesehen: den mit neuesten Waffen geführten Materialkrieg. Als Militärtheoretiker, der die technische Entwicklung genau verfolgte, wußte er, wovon er redete. Seine Anschauung von dem, was kommen konnte, hatte er als Kommentator des Krimkriegs (1853–1856) gewonnen. Der ist noch von einem anderen prominenten Zeitgenossen studiert worden: Leo Tolstoi, dort als Offizier eingesetzt, brachte seine Schilderung der Lazarettzustände in »Krieg und Frieden« von da mit. Er wurde Pazifist; Engels wußte: So was kommt von so etwas, also vom Kapitalismus. Deshalb Sozialismus. Die Katastrophe ist kein Rückfall, sondern etwas noch nie Dagewesenes. Lassen wir also die unschuldigen Barbaren in Ruhe. Katastrophen Die sozialistischen Bewegungen sind von den Bedingungen des Kapitalismus, auf die sie reagieren, verunstaltet. Ihre größte Schubkraft erhielten sie immer in Zeiten eklatanter Katastrophen der bürgerlichen Gesellschaft. Der Aufstand der Pariser Arbeiter im Juni 1848 antwortete auf die durch eine Wirtschaftskrise ausgelöste Massenarbeitslosigkeit, in der Commune erhoben sich 1871 die in der Niedergangsperiode des Bonapartismus besonders Gebeutelten. Die Große Depression 1873ff. brachte einen Aufschwung der deutschen Sozialdemokratie, der selbst durch das Sozialistengesetz nicht zu stoppen war. Die revolutionäre Krise in Europa 1917–1923 einschließlich der russischen Revolution hatte die Katastrophe des Ersten Weltkriegs zur Voraussetzung. Im schweren Wirtschaftseinbruch ab 1929 wurden die Kommunisten wieder stärker, und die Nazis hatten ihre Sozialismusdemagogie (so wie bereits ab 1873 die Antisemiten die »soziale Frage« des deutschen Arbeiters für sich entdeckten). 1945 war der Kapitalismus so diskreditiert, daß auch die CDU kurze Zeit nichts mehr von ihm wissen wollte.

Beschränkt sich die Legitimation des Sozialismus darauf, daß er die Antwort auf Katastrophen (durch dieses Fremdwort haben wir inzwischen das andere – Barbarei – ersetzt) ist, dann erscheint er als das kleinere Übel, das gern auch einmal umso größer sein darf, je schrecklicher die Blamage der alten Ordnung ist. Sozialismus ist dann wie eine chirurgische Operation, über die sich ja auch niemand freut, selbst wenn sie unvermeidlich ist. Gedeiht der Kapitalismus einige Jahrzehnte und an ausgewählten Orten einigermaßen, dann versteht, wer ihn nicht anders kennt, gar nicht, weshalb Menschen auf die Idee kommen konnten, zum Zweck seiner Überwindung Mangel und Mauer zwar für nicht besonders hübsch, aber doch als in ihrer Zeit alternativlos anzusehen. Das System ohne Alternative ist nämlich dann der Kapitalismus. Möglichkeiten Hier wurde tatsächlich etwas übersehen. Marx dachte über eine neue Gesellschaft nicht nur deshalb nach, weil die alte so katastrophal war und ist, sondern weil sie selbst das Potential ihrer Überwindung – und damit des besseren Lebens – erzeugt. Wir lächeln heute etwas darüber, wenn er im »Kapital« die Aktiengesellschaften und die Konzentration des Kapitals, bei der ein Kapitalist viele andere beseitigt, als Anzeichen dafür auffaßte, daß die bürgerliche Gesellschaft sich aufheben könne. Steigerung der Arbeitsproduktivität rechnete er sogar zu den »zivilisatorischen Seiten des Kapitals«.4 Das war für ihn keine Zwangsläufigkeit und keine Prophezeiung, sondern der Hinweis, daß man etwas daraus machen könne. »In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft«, in der »alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen«5, sei eben mehr möglich als im Kapitalismus (so steht es in der Kritik des Gothaer Programms von 1875), und diese Differenz macht den Kommunismus attraktiv, nicht das Elend der Gegenwart, die manchmal ja auch auszuhalten ist. Wenn Lenin den Imperialismus als faulenden Kapitalismus bezeichnete, dann meinte er, daß ein Zustand bereits erreichter Überreife überschritten sei. In ihrem Buch »Monopol Capitalism« von 1966 haben Paul A. Baran und Paul M. Sweezy als »potential surplus« jenen Überschuß an Wohlfahrt identifiziert, der über das kapitalistisch schon Erreichbare hinausgehe. Die Bewegung der Intellektuellen (und danach auch von Arbeitern) des Jahres 1968 antwortete nicht auf eine Krise, sondern auf die Chancen, zu denen der höchstentwickelte Kapitalismus in den Metropolen die Voraussetzungen geschaffen hatte. In Deutschland allerdings wurde skandiert: »Kapitalismus/Führt zum Faschismus/Kapitalismus/Muß weg.« Daß die RAF aus dieser Alternative ihre Legitimation zog, mag einen Teil ihrer Irrtümer erklären. Auch die US-amerikanische Intellektuellenbewegung verwies teilweise auf eine Katastrophe: Vietnam. Und es ist ja auch wahr: Im Goldenen Zeitalter des Kapitalismus, das Träume wachsen ließ, war die Gefahr des Atomkriegs immer präsent. Aber der Sozialismus wollte mehr als nur die Vermeidung von Krieg. Peter Hacks lächelte über den armen Brecht, der sich mit Gewerkschaftsstücken habe behelfen müssen, während man nun den Leuten schon etwas Vollkommenes und Klassisches zeigen könne. Barbara Kirchner und Dietmar Dath werden in ihrem Buch »Der Implex« (2012) – wie Dath schon in »Maschinenwinter« (2008) – die kapitalistischen Widersprüche nicht als Mangelproduktion definieren, sondern als den Gegensatz zwischen dem Wirklichen und dem jetzt schon Möglichen.

Um Utopie handelt es sich bei alledem nicht. Die war nämlich eine Gedankenkonstruktion, die eine einzige Voraussetzung hatte: einen Vorgang im Kopf ohne Anhalt in der Realität. Etwas anderes ist das Sichtbarmachen eines aktuellen Potentials. Gegenrechnung Wenn das jetzt schon zu machen wäre, warum tut man es nicht? Der polnisch-US-amerikanische Politologe Adam Przeworski, ein Vertreter des akademischen »Analytical Marxism« (einer Gedankenrichtung, der man im Übrigen nicht unbedingt anhängen muß), hat bei dem Versuch, gesellschaftliche Prozesse auf individuellen Nutzenkalkül zurückzuführen, ein brandgefährliches »Valley of Transition«, ein Tal der Tränen, entdeckt, in dem die Hoffnungen von Revolutionären verschwinden, wenn sie feststellen, daß es für sie und ihre Familien erst einmal viel schlechter werden wird, bevor es für künftige, ihnen persönlich unbekannte Generationen besser werden kann.6 Warum sollten sie also mit der Wurst nach dem Schinken werfen?

Das hätten die Pariser Arbeiter 1848 und 1871, die eine solche Rational-Choice-Theorie noch nicht kannten, sich eben vorher überlegen sollen, bevor sie niederkartätscht wurden. Der Kapitalismus wehrt sich, und deshalb überlegt man sich eben das Risiko. Theodor W. Adorno, dessen erfahrungsgesättigte Ängstlichkeit immer etwas Sympathisches, weil Grundehrliches hatte, hat die Verinnerlichung dieses Schutzmechanismus einst so beschrieben: »Auch in der hochliberalen Gesellschaft war nicht Konkurrenz das Gesetz, nach dem sie funktionierte. Diese war stets ein Fassadenphänomen. Die Gesellschaft wird zusammengehalten durch die wenn auch vielfach mittelbare Drohung körperlicher Gewalt, und auf diese geht die ›potentielle Feindseligkeit‹ zurück, die sich in Neurosen und Charakterstörungen auswirkt.«7 Großen Eindruck macht überdies, daß in den realen Sozialismen des 20. Jahrhunderts, die sich auf nicht viel mehr berufen konnten als darauf, daß sie Ergebnis einer üblen kapitalistischen Vergangenheit waren, das Valley of Transition nicht aufhörte, sondern da und dort immer weiter in die Tiefe führte. So schwer ist das also. Überakkumulation Nachdem wir vorhin wichtigtuerisch an Rosa Luxemburg herumgemeckert haben, weil sie keine gute Ethnologin war und den Barbaren falsch nachredete, wollen wir nun doch ihr großes Verdienst nicht verschweigen: ihre Theorie der Überakkumulation, niedergelegt in ihrem Hauptwerk »Die Akkumulation des Kapitals« von 1913.

Sie hat, wie schon Marx, gezeigt: Kapitalistisches Privateigentum, das sich bei Strafe des Untergangs des konkurrierenden einzelnen Unternehmens ständig vermehren muß, bedeutet nicht nur Akkumulation, sondern Überakkumulation, aus der es fast immer nur katastrophische Auswege gibt. Das führt zu den systemischen Krisen, bisher vier.

Die Industrielle Revolution endete in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer Überakkumulation vor allem von Montankapital. Nachdem die Gegend mit Gleisen und Lokomotiven vollgestopft war, platzte 1873 die Eisenbahn- und Terrainblase. In der langen Depression entstanden der Organisierte Kapitalismus und Imperialismus. Krupp baute jetzt eben nicht nur nahtlose Eisenbahnradreifen, sondern mehr Kanonen und belieferte die Schlachtflottenrüstung; der Erste Weltkrieg war eine prima Abhilfe gegen die Überakkumulation, die sich dann aber in den USA der zwanziger Jahre neu aufbaute und in die Weltwirtschaftskrise von 1929ff. führte.

Wieder ging ein Kapitalismus, wie man ihn kannte (Dynamik der Produktion, nicht der Nachfrage), unter, und ein neuer kam: der staatsmonopolistische keynesianische Kapitalismus mit seinen zwei Phasen: als Kriegskapitalismus bis 1945 und als Wohlfahrtskapitalismus bis 1973/75, der in gewisser Weise noch von der Katastrophe der Jahre 1929–1945 lebte: Es war viel aufzuholen. Der nächste Einschnitt kam in der Weltwirtschaftskrise von 1975: die Dritte Industrielle Revolution, kombiniert mit dem Monetarismus, steigerte die organische Zusammensetzung des Kapitals, die daraus resultierende Massenarbeitslosigkeit drückte auf Löhne und Nachfrage, dadurch überakkumuliertes Kapital produzierte Blasen und schließlich den vierten Einbruch: seit 2007. Nach 1975 war aus dem staatsmonopolitischen Kapitalismus (SMK) der finanzmarktgetriebene Kapitalismus (FMK) geworden. Jetzt kommt wohl wieder etwas Neues. Was? Dazu später. Wie in jedem guten Drama wird in der Darstellung vor dem letzten Akt zwecks Erhöhung der Spannung jetzt erst einmal ein retardierendes Moment eingelegt, nämlich: Die Eigentumsfrage Das kapitalistische Privateigentum, so haben wir gesehen, war immer wieder mit periodischer Überakkumulation verbunden. Ihm müssen wir uns also nun zuwenden.

1848 schrieben Marx und Engels über die Kommunisten – wo kommen die plötzlich her? Ach so: Wir reden immer noch von Rosa Luxemburg, sie war Kommunistin –: »In allen diesen Bewegungen heben sie die Eigentumsfrage, welche mehr oder minder entwickelte Form sie auch angenommen haben möge, als die Grundfrage der Bewegung hervor.«8

Die Formulierung ist vorsichtig: Die E-Frage wird gestellt aber nicht positiv, sondern zunächst nur negativ beantwortet – die »Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«9, sei unvereinbar mit dem bürgerlichen Privateigentum. Deshalb: »In diesem Sinn können die Kommunisten ihre Theorie in dem einen Ausdruck: Aufhebung des Privateigentums, zusammenfassen.«10 Wir merken uns nebenbei: Hier ist nicht nur von Beseitigung die Rede, sondern von Aufhebung. Das, was aufgehoben werden kann, muß vorher selbst die Voraussetzung dafür geschaffen haben.

Die Eigentumsfrage ist – wie der Mehrwert – eine Puppe in der Puppe. So wie dieser kaum einmal blank zutage tritt, sondern eingepackt in (selten) freihändige Aufschläge auf die Produktionskosten, Innovationsgewinn, Vorteil bei zeitweiligem Überwiegen der Nachfrage über das Angebot, Monopolprofit, so nimmt das Privateigentum an den Produktions- und Zirkulationsmitteln wechselnde Formen an: nach 1873 Monopole, Verstaatlichungen (der Eisenbahnen!) und Kommunalisierungen, öffentlich-rechtliche Regulationen (z.B. von vermietetem Immobilienbesitz), ab 1929 Steuerung von Nachfrage und Arbeitsmarkt, ab den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts Privatisierungen. Und jetzt? Operationalisierung Wer gegenwärtig dafür eintritt, daß die Finanzspekulation eingeschränkt wird, hat davon keinen politischen Konkurrenzvorteil, denn das verlangen mittlerweile alle. Es wird wohl auch – spätestens nach dem nächsten Crash – zu einer Neuordnung kommen, aber zu welcher?

Denkbar ist, daß versucht wird, die Schmälerung der hohen Renditen, die einige Jahrzehnte lang an den Börsen erzielt wurden, durch noch stärkeren Druck auf die Löhne und Sozialtransfers und weitere Ausschlachtung der Staaten zu kompensieren. Dabei ist der Finanzsektor mittlerweile in einem Zustand, daß hier die Eigentumsfrage mit mehr unmittelbarer Evidenz gestellt werden kann als in anderen Bereichen. Man mag gegen die Partei Die Linke ja dies oder jenes einzuwenden haben, aber hier ist bei ihr konzeptionell gut vorgearbeitet worden, auch schon zu Zeiten der PDS. Dankbar darf an den Ökonomen Peter Hess erinnert werden, der bereits 1990 darauf hinwies, daß Marx von zwei Möglichkeiten der Aufhebung des Privateigentums gehandelt habe: positiv durch die öffentlichen Hände, negativ mit Hilfe des Kredits. Letztere Form – so Hess – sei im gegenwärtigen Kapitalismus dominant. Mit den »Konzernen, Banken, Versicherungsgesellschaften, Investmenthäusern, Pensions- und anderen privaten und staatlichen Geldfonds« sei jene finanzkapitalistische Eigentumsform entstanden, neben welcher das staatssozialistische Eigentum – man befand sich in der Abwicklungsphase der DDR – für einige Zeit schließlich etwas alt aussah.11 Zweiundzwanzig Jahre später ist einerseits dieser Lack gründlich ab, andererseits hat man sich auf der Linken Gedanken über verschiedene Formen des öffentlichen Eigentums gemacht: nicht nur staatliches, sondern auch kommunales, genossenschaftliches; gesellschaftliche Kontrolle der verbleibenden kapitalistischen Unternehmen, Schutz des individuellen Reproduktionsbesitzes vor kapitalistischer Enteignung.12 Bei seinem Einstand in die Linkspartei hat Oskar Lafontaine 2007 in die gleiche Richtung argumentiert.13 Überführung der Finanzdienstleistungsindustrie in öffentliches Eigentum und seine Reduktion auf die Funktion der Sparkassen – hier hat die Eigentumsfrage eine aktuell lösungsreife Form angenommen. Gleiches gilt für den Energiesektor.

Das Problem der Steuern und der Finanzierung der sozialen Sicherung gehört ebenfalls hierher. Die Liberalen wissen schon, weshalb sie Vermögenssteuern, steile Progression der Einkommensteuern und Sozialabgaben (»Lohnnebenkosten«) als sozialistisch ablehnen. Als das britische Parlament 1847 die tägliche Arbeitszeit auf zehn Stunden beschränkte, freute sich Marx: »Zum ersten Mal erlag die politische Ökonomie der Mittelklasse in hellem Tageslicht vor der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse.«14 Wie das? Die freie Verfügung der Unternehmer über die von ihnen gekaufte Arbeitskraft war öffentlich-rechtlich eingeschränkt. Heute argumentieren Heinz J. Bontrup und Mohssen Massarrat in ihrem Manifest »Arbeitszeitverkürzung und Ausbau der öffentlichen Beschäftigung jetzt!« so – 30stündige Arbeitswoche, neue Beschäftigung in durch Vermögens- und höhere Spitzensteuersätze finanzierter ausgebauter öffentlicher Infrastruktur.

Die Dritte Industrielle Revolution hat eine sich ausweitende Allmende geschaffen, in der Softwareprodukte (z.B. per Download) erfreulich frei zugänglich sind, nicht aber ihre Produktionsmittel. (Das ist wie mit den Kugelschreibern, die man nicht mehr kaufen muß, denn man erhält sie als Werbegeschenke. Irgendwo aber werden sie in privaten Fabriken hergestellt.) Paul W. Cockshott und Allin Cottrell entwerfen einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts, der auf der Basis moderner Datenverarbeitung umfassende Demokratie und effiziente Allokation ermöglicht. Wunderbar. Zugleich hat Dietmar Dath zutreffend vermutet, die Entdeckung eines Staatstrojaners 2011 bedeute einen ähnlichen Einschnitt wie 1986 Tschernobyl. Was der Staat kann – Informationen stehlen, kontrollieren, manipulieren – bringen auch private Firmen zustande. Herrschaft über die Daten der Nutzer, das heißt: ihre Überführung von Eigentum der Individuen in fremde Verfügungsgewalt. Kein Wunder, daß hier eine neue Partei entstehen mußte. Zentralperspektive Wir sehen: Das Eigentumsproblem stellt sich meist in vermittelter Form – vorderhand nicht als Beseitigung des Kapitals, sondern als Einschränkung seiner Macht. Wenn eine sich sozialistisch nennende Partei programmatisch die »Zentralität der ökologischen Frage« verkündet, muß sie zeigen können, wie diese von jenem Kernthema her beantwortet werden kann, oder sie hat Pause. Dann wird diese Angelegenheit vorerst politisches Eigentum der Grünen bleiben.

Gerade ist Verdruß entstanden, weil einige Politikerinnen der Linkspartei sich einer Initiative für 30 Prozent Führungsposten in DAX-Unternehmen angeschlossen haben. Zur Überführung dieser Firmen in menschenfreundlichere Eigentumsformen wird das tatsächlich nichts beitragen. Aktuell weiterführend wäre die Frage, ob denn durch eine solche Reform die Altersarmut von Frauen gemildert wird und – falls nein – wie letztere durch Lohn-, Arbeitszeit – und Rentenpolitik, in denen jeweils Modifikationen der kapitalistischen Verfügungsgewalt ins Spiel kommen, zu verhindern ist.

Wer die Eigentumsfrage nur abstrakt propagiert, ist steril. Andererseits: Eine sozialistische Organisation, für die sie nicht der Zentralpunkt ist, von dem aus alle anderen Themen – bis hin zu Krieg, Frieden, Rüstungsproduktion und – exporten – beleuchtet werden, ist nicht mehr erkennbar. Dies war die Bilanz der Partei Die Linke im Jahr 2011. Statt sich der E-Frage zu stellen, ließ sie sich auf allerlei K- und P-Kram (Kommunismus-, Kuba- und Personaldebatten) ein. Mal sehen, wie das 2012 wird.

Anmerkungen
1 Luxemburg, Rosa: Die Krise der Sozialdemokratie, in: Ausgewählte politische Schriften in drei Bänden, Band 3, Frankfurt/Main 1971, S. 49

2 Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, MEW 21, S. 30–35 und 152–173

3 Luxemburg: Die Krise der Sozialdemokratie. a.a.O.

4 MEW 25, S. 827

5 MEW 19, S. 21

6 Przeworski, Adam: »Material Interests, Class Compromise, and the Transition to Socialism«, in: Roemer, John (Hrsg.): Analytical Marxism, Cambridge (USA), New York, Melbourne, Paris 1986, S. 162-188

7 Adorno, Theodor W.: »Die revidierte Psychoanalyse«, in: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Band 8: Soziologische Schriften I, Frankfurt am Main 2003, S. 32

8 Marx, Karl, und Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 493

9 A.a.O., S. 482

10 A.a.O., S. 475

11 Hess, Peter: Ausgangspunkte moderner Kapitalismuskritik, in: IPW-Berichte 1/1990, S. 33–39

12 Klein, Dieter: »Die Linke und das Eigentum. Zur programmatischen Diskussion«, in: Brie, Michael, Cornelia Hildebrandt, Meinhard Meuche-Mäker (Hrsg.): Die Linke. Wohin verändert sie die Republik? Berlin 2007, S. 192–218

13 Lafontaine, Oskar: www.faz.net/themenarchiv/2.1198/linke-freiheit-durch-sozialismus-1463999.html

14 Marx, Karl: Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation, gegründet am 28. September 1864 in öffentlicher Versammlung in St. Martin’s Hall, Long Acre, in London, MEW 16., S. 11 Auf der Konferenz nimmt Georg Fülberth an der Podiumsdiskussion zum Thema »Sozialismus oder Barbarei – welche Rolle spielt Die Linke?« teil.

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