Debatte. Die E-Frage. Sozialismus ist mehr als der Kampf gegen die Barbarei
Von Georg FülberthBeginnen wir mit dem berühmten Zitat von Rosa Luxemburg aus der
Juniusbroschüre von 1916: »Friedrich Engels sagte einmal: Die
bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma: entweder Übergang zum
Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei.«1
Hier stimmt etwas
nicht. Das Engels-Zitat ist nicht belegt. Es ist sogar unwahrscheinlich,
daß der Mitbegründer des historischen Materialismus vor der Barbarei
warnte. Zu ihr hatte er nämlich kein negatives Verhältnis. Ausweislich
seiner Schrift »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des
Staats« von 1884 war sie – als Gentilgesellschaft – eine historische
Periode zwischen zwei anderen: »Wildheit« und »Zivilisation«.2 Der
Übergang zu letzterer war für ihn ein Fortschritt, aber ein
problematischer: Es entstanden die patriarchale Familie, das
Privateigentum und der Staat, die irgendwann, im Verein freier Menschen,
wieder abzuschaffen sind. Als Engels 1893 die Ersetzung der stehenden
Heere durch eine Miliz vorschlug, wollte er sogar wieder zurück zur
Wehrorganisation der Gentilgesellschaft.
Tatsächlich hatte Rosa
Luxemburg bei der Beschreibung der Katastrophe von 1914ff. nicht die
prähistorische Barbarei im Sinn, sondern die Gegenwart und eine Analogie
aus der schriftlich überlieferten Geschichte, mithin zwei Beispiele aus
der Geschichte der Zivilisation, wenngleich, wie gezeigt, unter
falschem Namen: »Dieser Weltkrieg – das ist ein Rückfall in die
Barbarei. Der Triumph des Imperialismus führt zur Vernichtung der Kultur
– sporadisch während der Dauer eines modernen Krieges, und endgültig,
wenn die nun begonnene Periode der Weltkriege ungehemmt bis zur letzten
Konsequenz ihren Fortgang nehmen sollte. Wir stehen also heute, genau
wie Friedrich Engels vor einem Menschenalter, vor vierzig Jahren,
voraussagte, vor der Wahl: entweder Triumph des Imperialismus und
Untergang jeglicher Kultur, wie im alten Rom, Entvölkerung, Verödung,
Degeneration, ein großer Friedhof. Oder Sieg des Sozialismus, das heißt
der bewußten Kampfaktion des internationalen Proletariats gegen den
Imperialismus und seine Methode: den Krieg.«3
Barbarei ist für
sie demnach eine Metapher für einen Zivilisationsbruch, und das ist
schon wieder etwas schief, denn letzterer ist keine Regression, sondern
etwas Modernes. Das hat Engels tatsächlich vorhergesehen: den mit
neuesten Waffen geführten Materialkrieg. Als Militärtheoretiker, der die
technische Entwicklung genau verfolgte, wußte er, wovon er redete.
Seine Anschauung von dem, was kommen konnte, hatte er als Kommentator
des Krimkriegs (1853–1856) gewonnen. Der ist noch von einem anderen
prominenten Zeitgenossen studiert worden: Leo Tolstoi, dort als Offizier
eingesetzt, brachte seine Schilderung der Lazarettzustände in »Krieg
und Frieden« von da mit. Er wurde Pazifist; Engels wußte: So was kommt
von so etwas, also vom Kapitalismus. Deshalb Sozialismus. Die
Katastrophe ist kein Rückfall, sondern etwas noch nie Dagewesenes.
Lassen wir also die unschuldigen Barbaren in Ruhe.
Katastrophen
Die sozialistischen Bewegungen sind von den Bedingungen des
Kapitalismus, auf die sie reagieren, verunstaltet. Ihre größte
Schubkraft erhielten sie immer in Zeiten eklatanter Katastrophen der
bürgerlichen Gesellschaft. Der Aufstand der Pariser Arbeiter im Juni
1848 antwortete auf die durch eine Wirtschaftskrise ausgelöste
Massenarbeitslosigkeit, in der Commune erhoben sich 1871 die in der
Niedergangsperiode des Bonapartismus besonders Gebeutelten. Die Große
Depression 1873ff. brachte einen Aufschwung der deutschen
Sozialdemokratie, der selbst durch das Sozialistengesetz nicht zu
stoppen war. Die revolutionäre Krise in Europa 1917–1923 einschließlich
der russischen Revolution hatte die Katastrophe des Ersten Weltkriegs
zur Voraussetzung. Im schweren Wirtschaftseinbruch ab 1929 wurden die
Kommunisten wieder stärker, und die Nazis hatten ihre
Sozialismusdemagogie (so wie bereits ab 1873 die Antisemiten die
»soziale Frage« des deutschen Arbeiters für sich entdeckten). 1945 war
der Kapitalismus so diskreditiert, daß auch die CDU kurze Zeit nichts
mehr von ihm wissen wollte.
Beschränkt sich die Legitimation
des Sozialismus darauf, daß er die Antwort auf Katastrophen (durch
dieses Fremdwort haben wir inzwischen das andere – Barbarei – ersetzt)
ist, dann erscheint er als das kleinere Übel, das gern auch einmal umso
größer sein darf, je schrecklicher die Blamage der alten Ordnung ist.
Sozialismus ist dann wie eine chirurgische Operation, über die sich ja
auch niemand freut, selbst wenn sie unvermeidlich ist. Gedeiht der
Kapitalismus einige Jahrzehnte und an ausgewählten Orten einigermaßen,
dann versteht, wer ihn nicht anders kennt, gar nicht, weshalb Menschen
auf die Idee kommen konnten, zum Zweck seiner Überwindung Mangel und
Mauer zwar für nicht besonders hübsch, aber doch als in ihrer Zeit
alternativlos anzusehen. Das System ohne Alternative ist nämlich dann
der Kapitalismus.
Möglichkeiten Hier wurde tatsächlich etwas
übersehen. Marx dachte über eine neue Gesellschaft nicht nur deshalb
nach, weil die alte so katastrophal war und ist, sondern weil sie selbst
das Potential ihrer Überwindung – und damit des besseren Lebens –
erzeugt. Wir lächeln heute etwas darüber, wenn er im »Kapital« die
Aktiengesellschaften und die Konzentration des Kapitals, bei der ein
Kapitalist viele andere beseitigt, als Anzeichen dafür auffaßte, daß die
bürgerliche Gesellschaft sich aufheben könne. Steigerung der
Arbeitsproduktivität rechnete er sogar zu den »zivilisatorischen Seiten
des Kapitals«.4 Das war für ihn keine Zwangsläufigkeit und keine
Prophezeiung, sondern der Hinweis, daß man etwas daraus machen könne.
»In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft«, in der »alle
Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen«5, sei
eben mehr möglich als im Kapitalismus (so steht es in der Kritik des
Gothaer Programms von 1875), und diese Differenz macht den Kommunismus
attraktiv, nicht das Elend der Gegenwart, die manchmal ja auch
auszuhalten ist. Wenn Lenin den Imperialismus als faulenden Kapitalismus
bezeichnete, dann meinte er, daß ein Zustand bereits erreichter
Überreife überschritten sei. In ihrem Buch »Monopol Capitalism« von 1966
haben Paul A. Baran und Paul M. Sweezy als »potential surplus« jenen
Überschuß an Wohlfahrt identifiziert, der über das kapitalistisch schon
Erreichbare hinausgehe. Die Bewegung der Intellektuellen (und danach
auch von Arbeitern) des Jahres 1968 antwortete nicht auf eine Krise,
sondern auf die Chancen, zu denen der höchstentwickelte Kapitalismus in
den Metropolen die Voraussetzungen geschaffen hatte. In Deutschland
allerdings wurde skandiert: »Kapitalismus/Führt zum
Faschismus/Kapitalismus/Muß weg.« Daß die RAF aus dieser Alternative
ihre Legitimation zog, mag einen Teil ihrer Irrtümer erklären. Auch die
US-amerikanische Intellektuellenbewegung verwies teilweise auf eine
Katastrophe: Vietnam. Und es ist ja auch wahr: Im Goldenen Zeitalter des
Kapitalismus, das Träume wachsen ließ, war die Gefahr des Atomkriegs
immer präsent. Aber der Sozialismus wollte mehr als nur die Vermeidung
von Krieg. Peter Hacks lächelte über den armen Brecht, der sich mit
Gewerkschaftsstücken habe behelfen müssen, während man nun den Leuten
schon etwas Vollkommenes und Klassisches zeigen könne. Barbara Kirchner
und Dietmar Dath werden in ihrem Buch »Der Implex« (2012) – wie Dath
schon in »Maschinenwinter« (2008) – die kapitalistischen Widersprüche
nicht als Mangelproduktion definieren, sondern als den Gegensatz
zwischen dem Wirklichen und dem jetzt schon Möglichen.
Um
Utopie handelt es sich bei alledem nicht. Die war nämlich eine
Gedankenkonstruktion, die eine einzige Voraussetzung hatte: einen
Vorgang im Kopf ohne Anhalt in der Realität. Etwas anderes ist das
Sichtbarmachen eines aktuellen Potentials.
Gegenrechnung Wenn
das jetzt schon zu machen wäre, warum tut man es nicht? Der
polnisch-US-amerikanische Politologe Adam Przeworski, ein Vertreter des
akademischen »Analytical Marxism« (einer Gedankenrichtung, der man im
Übrigen nicht unbedingt anhängen muß), hat bei dem Versuch,
gesellschaftliche Prozesse auf individuellen Nutzenkalkül
zurückzuführen, ein brandgefährliches »Valley of Transition«, ein Tal
der Tränen, entdeckt, in dem die Hoffnungen von Revolutionären
verschwinden, wenn sie feststellen, daß es für sie und ihre Familien
erst einmal viel schlechter werden wird, bevor es für künftige, ihnen
persönlich unbekannte Generationen besser werden kann.6 Warum sollten
sie also mit der Wurst nach dem Schinken werfen?
Das hätten die
Pariser Arbeiter 1848 und 1871, die eine solche Rational-Choice-Theorie
noch nicht kannten, sich eben vorher überlegen sollen, bevor sie
niederkartätscht wurden. Der Kapitalismus wehrt sich, und deshalb
überlegt man sich eben das Risiko. Theodor W. Adorno, dessen
erfahrungsgesättigte Ängstlichkeit immer etwas Sympathisches, weil
Grundehrliches hatte, hat die Verinnerlichung dieses Schutzmechanismus
einst so beschrieben: »Auch in der hochliberalen Gesellschaft war nicht
Konkurrenz das Gesetz, nach dem sie funktionierte. Diese war stets ein
Fassadenphänomen. Die Gesellschaft wird zusammengehalten durch die wenn
auch vielfach mittelbare Drohung körperlicher Gewalt, und auf diese geht
die ›potentielle Feindseligkeit‹ zurück, die sich in Neurosen und
Charakterstörungen auswirkt.«7 Großen Eindruck macht überdies, daß in
den realen Sozialismen des 20. Jahrhunderts, die sich auf nicht viel
mehr berufen konnten als darauf, daß sie Ergebnis einer üblen
kapitalistischen Vergangenheit waren, das Valley of Transition nicht
aufhörte, sondern da und dort immer weiter in die Tiefe führte. So
schwer ist das also.
Überakkumulation Nachdem wir vorhin
wichtigtuerisch an Rosa Luxemburg herumgemeckert haben, weil sie keine
gute Ethnologin war und den Barbaren falsch nachredete, wollen wir nun
doch ihr großes Verdienst nicht verschweigen: ihre Theorie der
Überakkumulation, niedergelegt in ihrem Hauptwerk »Die Akkumulation des
Kapitals« von 1913.
Sie hat, wie schon Marx, gezeigt:
Kapitalistisches Privateigentum, das sich bei Strafe des Untergangs des
konkurrierenden einzelnen Unternehmens ständig vermehren muß, bedeutet
nicht nur Akkumulation, sondern Überakkumulation, aus der es fast immer
nur katastrophische Auswege gibt. Das führt zu den systemischen Krisen,
bisher vier.
Die Industrielle Revolution endete in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer Überakkumulation vor allem von
Montankapital. Nachdem die Gegend mit Gleisen und Lokomotiven
vollgestopft war, platzte 1873 die Eisenbahn- und Terrainblase. In der
langen Depression entstanden der Organisierte Kapitalismus und
Imperialismus. Krupp baute jetzt eben nicht nur nahtlose
Eisenbahnradreifen, sondern mehr Kanonen und belieferte die
Schlachtflottenrüstung; der Erste Weltkrieg war eine prima Abhilfe gegen
die Überakkumulation, die sich dann aber in den USA der zwanziger Jahre
neu aufbaute und in die Weltwirtschaftskrise von 1929ff. führte.
Wieder ging ein Kapitalismus, wie man ihn kannte (Dynamik der
Produktion, nicht der Nachfrage), unter, und ein neuer kam: der
staatsmonopolistische keynesianische Kapitalismus mit seinen zwei
Phasen: als Kriegskapitalismus bis 1945 und als Wohlfahrtskapitalismus
bis 1973/75, der in gewisser Weise noch von der Katastrophe der Jahre
1929–1945 lebte: Es war viel aufzuholen. Der nächste Einschnitt kam in
der Weltwirtschaftskrise von 1975: die Dritte Industrielle Revolution,
kombiniert mit dem Monetarismus, steigerte die organische
Zusammensetzung des Kapitals, die daraus resultierende
Massenarbeitslosigkeit drückte auf Löhne und Nachfrage, dadurch
überakkumuliertes Kapital produzierte Blasen und schließlich den vierten
Einbruch: seit 2007. Nach 1975 war aus dem staatsmonopolitischen
Kapitalismus (SMK) der finanzmarktgetriebene Kapitalismus (FMK)
geworden. Jetzt kommt wohl wieder etwas Neues. Was? Dazu später. Wie in
jedem guten Drama wird in der Darstellung vor dem letzten Akt zwecks
Erhöhung der Spannung jetzt erst einmal ein retardierendes Moment
eingelegt, nämlich:
Die Eigentumsfrage Das kapitalistische
Privateigentum, so haben wir gesehen, war immer wieder mit periodischer
Überakkumulation verbunden. Ihm müssen wir uns also nun zuwenden.
1848 schrieben Marx und Engels über die Kommunisten – wo kommen die
plötzlich her? Ach so: Wir reden immer noch von Rosa Luxemburg, sie war
Kommunistin –: »In allen diesen Bewegungen heben sie die Eigentumsfrage,
welche mehr oder minder entwickelte Form sie auch angenommen haben
möge, als die Grundfrage der Bewegung hervor.«8
Die
Formulierung ist vorsichtig: Die E-Frage wird gestellt aber nicht
positiv, sondern zunächst nur negativ beantwortet – die »Assoziation,
worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie
Entwicklung aller ist«9, sei unvereinbar mit dem bürgerlichen
Privateigentum. Deshalb: »In diesem Sinn können die Kommunisten ihre
Theorie in dem einen Ausdruck: Aufhebung des Privateigentums,
zusammenfassen.«10 Wir merken uns nebenbei: Hier ist nicht nur von
Beseitigung die Rede, sondern von Aufhebung. Das, was aufgehoben werden
kann, muß vorher selbst die Voraussetzung dafür geschaffen haben.
Die Eigentumsfrage ist – wie der Mehrwert – eine Puppe in der Puppe. So
wie dieser kaum einmal blank zutage tritt, sondern eingepackt in
(selten) freihändige Aufschläge auf die Produktionskosten,
Innovationsgewinn, Vorteil bei zeitweiligem Überwiegen der Nachfrage
über das Angebot, Monopolprofit, so nimmt das Privateigentum an den
Produktions- und Zirkulationsmitteln wechselnde Formen an: nach 1873
Monopole, Verstaatlichungen (der Eisenbahnen!) und Kommunalisierungen,
öffentlich-rechtliche Regulationen (z.B. von vermietetem
Immobilienbesitz), ab 1929 Steuerung von Nachfrage und Arbeitsmarkt, ab
den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts Privatisierungen. Und jetzt?
Operationalisierung
Wer gegenwärtig dafür eintritt, daß die Finanzspekulation eingeschränkt
wird, hat davon keinen politischen Konkurrenzvorteil, denn das
verlangen mittlerweile alle. Es wird wohl auch – spätestens nach dem
nächsten Crash – zu einer Neuordnung kommen, aber zu welcher?
Denkbar ist, daß versucht wird, die Schmälerung der hohen Renditen, die
einige Jahrzehnte lang an den Börsen erzielt wurden, durch noch
stärkeren Druck auf die Löhne und Sozialtransfers und weitere
Ausschlachtung der Staaten zu kompensieren. Dabei ist der Finanzsektor
mittlerweile in einem Zustand, daß hier die Eigentumsfrage mit mehr
unmittelbarer Evidenz gestellt werden kann als in anderen Bereichen. Man
mag gegen die Partei Die Linke ja dies oder jenes einzuwenden haben,
aber hier ist bei ihr konzeptionell gut vorgearbeitet worden, auch schon
zu Zeiten der PDS. Dankbar darf an den Ökonomen Peter Hess erinnert
werden, der bereits 1990 darauf hinwies, daß Marx von zwei Möglichkeiten
der Aufhebung des Privateigentums gehandelt habe: positiv durch die
öffentlichen Hände, negativ mit Hilfe des Kredits. Letztere Form – so
Hess – sei im gegenwärtigen Kapitalismus dominant. Mit den »Konzernen,
Banken, Versicherungsgesellschaften, Investmenthäusern, Pensions- und
anderen privaten und staatlichen Geldfonds« sei jene
finanzkapitalistische Eigentumsform entstanden, neben welcher das
staatssozialistische Eigentum – man befand sich in der Abwicklungsphase
der DDR – für einige Zeit schließlich etwas alt aussah.11 Zweiundzwanzig
Jahre später ist einerseits dieser Lack gründlich ab, andererseits hat
man sich auf der Linken Gedanken über verschiedene Formen des
öffentlichen Eigentums gemacht: nicht nur staatliches, sondern auch
kommunales, genossenschaftliches; gesellschaftliche Kontrolle der
verbleibenden kapitalistischen Unternehmen, Schutz des individuellen
Reproduktionsbesitzes vor kapitalistischer Enteignung.12 Bei seinem
Einstand in die Linkspartei hat Oskar Lafontaine 2007 in die gleiche
Richtung argumentiert.13 Überführung der Finanzdienstleistungsindustrie
in öffentliches Eigentum und seine Reduktion auf die Funktion der
Sparkassen – hier hat die Eigentumsfrage eine aktuell lösungsreife Form
angenommen. Gleiches gilt für den Energiesektor.
Das Problem
der Steuern und der Finanzierung der sozialen Sicherung gehört ebenfalls
hierher. Die Liberalen wissen schon, weshalb sie Vermögenssteuern,
steile Progression der Einkommensteuern und Sozialabgaben
(»Lohnnebenkosten«) als sozialistisch ablehnen. Als das britische
Parlament 1847 die tägliche Arbeitszeit auf zehn Stunden beschränkte,
freute sich Marx: »Zum ersten Mal erlag die politische Ökonomie der
Mittelklasse in hellem Tageslicht vor der politischen Ökonomie der
Arbeiterklasse.«14 Wie das? Die freie Verfügung der Unternehmer über die
von ihnen gekaufte Arbeitskraft war öffentlich-rechtlich eingeschränkt.
Heute argumentieren Heinz J. Bontrup und Mohssen Massarrat in ihrem
Manifest »Arbeitszeitverkürzung und Ausbau der öffentlichen
Beschäftigung jetzt!« so – 30stündige Arbeitswoche, neue Beschäftigung
in durch Vermögens- und höhere Spitzensteuersätze finanzierter
ausgebauter öffentlicher Infrastruktur.
Die Dritte Industrielle
Revolution hat eine sich ausweitende Allmende geschaffen, in der
Softwareprodukte (z.B. per Download) erfreulich frei zugänglich sind,
nicht aber ihre Produktionsmittel. (Das ist wie mit den Kugelschreibern,
die man nicht mehr kaufen muß, denn man erhält sie als Werbegeschenke.
Irgendwo aber werden sie in privaten Fabriken hergestellt.) Paul W.
Cockshott und Allin Cottrell entwerfen einen Sozialismus des 21.
Jahrhunderts, der auf der Basis moderner Datenverarbeitung umfassende
Demokratie und effiziente Allokation ermöglicht. Wunderbar. Zugleich hat
Dietmar Dath zutreffend vermutet, die Entdeckung eines Staatstrojaners
2011 bedeute einen ähnlichen Einschnitt wie 1986 Tschernobyl. Was der
Staat kann – Informationen stehlen, kontrollieren, manipulieren –
bringen auch private Firmen zustande. Herrschaft über die Daten der
Nutzer, das heißt: ihre Überführung von Eigentum der Individuen in
fremde Verfügungsgewalt. Kein Wunder, daß hier eine neue Partei
entstehen mußte.
Zentralperspektive Wir sehen: Das
Eigentumsproblem stellt sich meist in vermittelter Form – vorderhand
nicht als Beseitigung des Kapitals, sondern als Einschränkung seiner
Macht. Wenn eine sich sozialistisch nennende Partei programmatisch die
»Zentralität der ökologischen Frage« verkündet, muß sie zeigen können,
wie diese von jenem Kernthema her beantwortet werden kann, oder sie hat
Pause. Dann wird diese Angelegenheit vorerst politisches Eigentum der
Grünen bleiben.
Gerade ist Verdruß entstanden, weil einige
Politikerinnen der Linkspartei sich einer Initiative für 30 Prozent
Führungsposten in DAX-Unternehmen angeschlossen haben. Zur Überführung
dieser Firmen in menschenfreundlichere Eigentumsformen wird das
tatsächlich nichts beitragen. Aktuell weiterführend wäre die Frage, ob
denn durch eine solche Reform die Altersarmut von Frauen gemildert wird
und – falls nein – wie letztere durch Lohn-, Arbeitszeit – und
Rentenpolitik, in denen jeweils Modifikationen der kapitalistischen
Verfügungsgewalt ins Spiel kommen, zu verhindern ist.
Wer die
Eigentumsfrage nur abstrakt propagiert, ist steril. Andererseits: Eine
sozialistische Organisation, für die sie nicht der Zentralpunkt ist, von
dem aus alle anderen Themen – bis hin zu Krieg, Frieden,
Rüstungsproduktion und – exporten – beleuchtet werden, ist nicht mehr
erkennbar. Dies war die Bilanz der Partei Die Linke im Jahr 2011. Statt
sich der E-Frage zu stellen, ließ sie sich auf allerlei K- und P-Kram
(Kommunismus-, Kuba- und Personaldebatten) ein. Mal sehen, wie das 2012
wird.
Anmerkungen
1 Luxemburg, Rosa: Die Krise
der Sozialdemokratie, in: Ausgewählte politische Schriften in drei
Bänden, Band 3, Frankfurt/Main 1971, S. 49
2 Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, MEW 21, S. 30–35 und 152–173
3 Luxemburg: Die Krise der Sozialdemokratie. a.a.O.
4 MEW 25, S. 827
5 MEW 19, S. 21
6 Przeworski, Adam: »Material Interests, Class Compromise, and the
Transition to Socialism«, in: Roemer, John (Hrsg.): Analytical Marxism,
Cambridge (USA), New York, Melbourne, Paris 1986, S. 162-188
7
Adorno, Theodor W.: »Die revidierte Psychoanalyse«, in: Adorno, Theodor
W.: Gesammelte Schriften. Band 8: Soziologische Schriften I, Frankfurt
am Main 2003, S. 32
8 Marx, Karl, und Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 493
9 A.a.O., S. 482
10 A.a.O., S. 475
11 Hess, Peter: Ausgangspunkte moderner Kapitalismuskritik, in: IPW-Berichte 1/1990, S. 33–39
12 Klein, Dieter: »Die Linke und das Eigentum. Zur programmatischen
Diskussion«, in: Brie, Michael, Cornelia Hildebrandt, Meinhard
Meuche-Mäker (Hrsg.): Die Linke. Wohin verändert sie die Republik?
Berlin 2007, S. 192–218
13 Lafontaine, Oskar: www.faz.net/themenarchiv/2.1198/linke-freiheit-durch-sozialismus-1463999.html
14 Marx, Karl: Inauguraladresse der Internationalen
Arbeiterassoziation, gegründet am 28. September 1864 in öffentlicher
Versammlung in St. Martin’s Hall, Long Acre, in London, MEW 16., S. 11
Auf der Konferenz nimmt Georg Fülberth an der Podiumsdiskussion zum Thema »Sozialismus oder Barbarei – welche Rolle spielt Die Linke?« teil.
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!