Andere Spielregeln
Von Arnold SchölzelFranz Josef Degenhardt schildert in seinem Roman »Zündschnüre«, was gegen jugendliche Nazis getan werden kann, selbst wenn deren Väter regieren: Einer tritt gegen eine als Fußball getarnte Eisenkugel und landet später, da nur der Knochenbruch geheilt ist, aber politisch nichts, nackt für eine halbe Stunde in einem Ameisenhaufen.
Der Schauspieler Rolf Becker las diese Passage aus dem Bestseller des Jahres 1973 am Sonnabend während der Rosa-Luxemburg-Konferenz in der Berliner Urania.
Das Buch, meinte der Liedermacher Kai Degenhardt, der mit ihm auftrat, sei so etwas wie die »Wunschbiographie« seines Vaters gewesen. »Farewell Karratsch« nannten beide ihr Kurzprogramm. Den Titel trug das von jW organisierte große Konzert im Berliner Ensemble vom 19. Dezember 2011.
An der Edition des Mitschnitts wird gearbeitet, war am Sonnabend zu erfahren, die ersten beiden der auf zehn Bände geplante Ausgabe seiner Texte im Berliner Verlag Kulturmaschinen wurden vorgestellt. Ehrung eines Klassikers? Ja, wenn klassisch nicht im Sinne von antiquarisch, sondern von ästhetisch und politisch vollständig verstanden wird.
Rolf Becker und Kai Degenhardt traten in der Mitte der neunstündigen Veranstaltung auf. Kunst, Kultur, Politik, Theorie, vor allem aber Debatte waren Inhalt auch ihrer siebzehnten Ausgabe, durch die Kabarettist Dr. Seltsam führte. Den Start und das Finale markierte das Trio Palmera mit lateinamerikanischer Musik. Pablo Miró, in Berlin lebender Songwriter aus Argentinien, sang Lieder des von Chiles Faschisten ermordeten Dichters Victor Jara und des von den USA mit einer Terrorstrafe belegten kubanischen Terrorbekämpfers Antonio Guerrero.Jennipher Antoni und Michael Mäde luden zur Modotti-Ausstellung in die jW-Ladengalerie ein und lasen Texte der Revolutionärin und Fotografin. Peter Jacobs stellte Fidel Castros 800-Seiten-Band »Der strategische Sieg« vor, dessen deutsche Ausgabe demnächst im Verlag Neues Leben erscheint. Karl-Heinz Dellwo vom Hamburger Laika-Verlag präsentierte einen neuen Band der auf 100 Exemplare angelegten Bibliothek des Widerstands. Titel: »Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv«. Dellwos Resümee von 35 Jahren angeblich alternativer Politik: »Die Grünen haben kein Atomkraftwerk abgeschaltet, nur den Marxismus in der Opposition.«
Bewegend die von Mut und Lebensmut bestimmte Botschaft der Cuban Five, verfaßt am 10. Januar in einem Knast in Georgia/USA, hier vorgetragen vom Botschafter Kubas Raúl Becerra Egana. Ebenso eindrucksvoll der packende Auftritt von Johanna Fernandez, Historikerin aus New York, Sprecherin des Verteidigungsteams von Mumia Abu-Jamal: Seit fast 40 Tagen ist er nicht mehr im Todestrakt, sondern in »administrativer Haft« - unter Umständen, die alle Kriterien für Folter erfüllen. Eine Audiobotschaft war diesmal nicht möglich.
Analoges gilt für den Soldaten Bradley Manning, der u. a. das Video vom Erschießen irakischer Zivilisten in Bagdad aus US-Hubschraubern heraus an die Öffentlichkeit brachte. Ihm droht die Todesstrafe. Per Akklamation protestierte die Konferenz gegen sein Verfahren. Die Repression im NATO-Vorposten Richtung Naher und Mittlerer Osten, in der Türkei, kritisierte der des Ex-Guerrillero und heutige Abgeordnete Ertugrul Kürkcü.
Ausführlich berichteten die Referenten aus ihren Ländern (nachzulesen in der jW-Beilage am 1. Februar). Sami Ben Ghazi (Union der kommunistischen Jugend Tunesiens): Die arabischen Aufstände haben »andere Spielregeln« in die Welt gebracht, aber islamistische Parteien in den Regierungen sind »Retter imperialistischer Interessen«. Geraldo Gasparin (Landlosenbewegung MTS in Brasilien): In der Krise strömte Kapital aus dem Norden in das Agrobusiness des Südens – mit verheerenden Folgen. Brasilien verfügt über fünf Prozent der landwirtschaftlichen Anbaufläche weltweit, verbraucht aber 20 Prozent aller Agrogifte. Pedro Noel Carrillo Alfonso (KP Kuba): Wir brauchen ein neues Wirtschaftsmodell zur Weiterführung der Revolution, aber es ist kein Sozialismusmodell für alle Länder. Agostinho Lopes (KP Portugal): Die EU ist nicht reform- und veränderungsfähig, denn ihre Grundlagen sind Dominanz der Großmächte, Neoliberalismus und Militarismus.
Die Vorlage für die abschließende Podiumsdiskussion war geliefert, der große Urania-Saal füllte sich wieder restlos. Insgesamt waren über 1800 Besucher im Laufe des Tages da – allerdings wenige Kinder. Ein Ruf nach Betreuung und weniger Langeweile für die Jüngsten brachte es auf 160 Unterschriften.
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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