75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Mittwoch, 3. Juli 2024, Nr. 152
Die junge Welt wird von 2819 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €

Leserbrief verfassen

Betr.: Artikel Ruinöse Strategie

Artikel »Ruinöse Strategie« einblenden / ausblenden

Ruinöse Strategie

Saudi-Arabiens Zukunftsprogramm »Vision 2030« darf als gescheitert gelten

Vor acht Jahren kündigte das saudi-arabische Königshaus Großes an. Nun ist im Zusammenhang mit dem wachsenden Haushaltsdefizit und den Aktienverkäufen des Staatskonzerns Aramco, des größten Erdölunternehmens der Welt, wieder einmal von großen Finanzierungsproblemen des Zukunftsprogramms »Vision 2030« die Rede, das die Regierung im April 2016 vorgestellt hatte. Definiert wurden darin gesellschaftliche, ökonomische und infrastrukturelle Ziele, die bis 2030 erreicht werden sollen. Unter ihnen gigantische Bauvorhaben.

Einer der wichtigsten Gradmesser zur Beantwortung der Frage, ob die deklarierten Ziele erreichbar sind, ist die tatsächliche Entwicklung des Brutto­inlandsprodukts (BIP). Diese Zahl gibt den Gesamtwert der Waren und Dienstleistungen an, die in einem bestimmten Land während eines Jahres hergestellt oder erbracht wurden. BIP entspricht dem englischen GDP, das für Gross Domestic Product steht. Üblicherweise wird es mit der Wirtschaftsstärke eines Landes gleichgesetzt.

In keinem Jahr erreicht

2016 hatte die Staatsführung als Ziel ausgegeben, das Land bis 2030 von Platz 19 der Welt in den Kreis der ersten 15 zu bringen. Heute liegt das Königreich unverändert an 19. Stelle der internationalen Rangliste. Um wenigstens auf Platz 15 vorzurücken, müsste Saudi-Arabien – wenn man vom gegenwärtigen Stand ausgeht – an der Türkei, den Niederlanden, Indonesien und Spanien vorbeiziehen. Das würde eine Zunahme seines GDP um grob geschätzt mindestens 540 Milliarden, eher wohl 550 Milliarden Dollar voraussetzen, was einer Steigerung von fast 50 Prozent entspräche. Auf die noch verbleibenden sechs Jahre bis 2030 verteilt, müsste das GDP im Jahresdurchschnitt um acht Prozent wachsen.

Dieses Wachstum wurde in keinem Jahr seit Verkündung der »Vision 2030« erreicht. Das höchste lag 2022 bei 7,5 Prozent, als sich die Weltwirtschaft nach dem starken Rückgang im ersten Coronajahr 2020 wieder ­erholte. 2023 schrumpfte das saudi-arabische GDP um 0,76 Prozent, für das laufende Jahr wird ein mäßiges Wachstum von 2,55 prognostiziert.

Theoretisch könnte sich das Königreich immer noch um ein oder zwei Plätze nach oben schieben, falls die Wirtschaftsentwicklung in der Türkei oder den Niederlanden – derzeit Platz 18 und 17 der Rangliste – sehr negativ verläuft. Entscheidend ist aber nicht der Listenplatz, sondern die absolute Höhe des GDP, das im laufenden Jahr voraussichtlich bei etwa 1,1 Billionen Dollar liegen wird. Allein die Kosten des geplanten oder erträumten Herzstücks der »Vision 2030«, der »Sonderwirtschaftszone« Neom, werden auf 1,5 Billionen Dollar geschätzt. Es ist daher kein Wunder, dass viele Bauprojekte, die in Zusammenhang mit der »Vision 2030« für Aufmerksamkeit sorgen sollten, mittlerweile zurückgestellt oder radikal verkleinert wurden.

Internationale Finanzanalytiker gehen seit etlichen Jahren davon aus, dass Saudi-Arabien einen Ölpreis von rund 100 Dollar pro Barrel benötigt, um einen ausgeglichenen Staatshaushalt zu ermöglichen, weil dieser sich hauptsächlich auf die Erlöse aus dem Erdölgeschäft stützt. Bei der US-amerikanischen Nachrichtenagentur Bloomberg hat man es noch einmal genau durchgerechnet und kam in einem am 22. April veröffentlichten Bericht auf 96,20 Dollar pro Barrel, sofern das Königreich bei seiner gegenwärtigen, stark gedrosselten Fördermenge von 9,3 Millionen Barrel pro Tag bleibt.

Im Rückblick hat der Ölpreis diese Höhe nur ganz selten erreicht: in den Jahren 2011 bis 2014 und später noch einmal 2022. Der Ausarbeitung der »Vision 2030« lag eine Ausnahme­situation zugrunde, die das Global Institute des internationalen Beratungsunternehmens McKinsey in einem Bericht vom Dezember 2015 so beschrieb: Der Ölpreis-Boom zwischen 2003 und 2013 trieb »Wohlstand in Saudi-Arabien voran (…) Das GDP verdoppelte sich, das Haushaltseinkommen wuchs um 75 Prozent an und 1,7 Millionen Jobs wurden geschaffen. Darunter waren auch Arbeitsplätze für saudische Frauen. Die Regierung investierte in großem Stil in Bildung, Gesundheit und Infrastruktur. Sie baute Reserven auf, die 2014 fast 100 Prozent des GDP betrugen.«

Zukunftseuphorie

Auf dieser Grundlage entwickelte McKinsey ein Zukunftsprogramm für Saudi-Arabien, dem die »Vision 2030« offensichtlich weitgehend folgte. Aber 2016, das Jahr, in dem Mohammed bin Salman dieses Projekt am 25. April in einem Interview mit dem regierungstreuen Sender Al-Arabija vorstellte, lag der Ölpreis im Jahresdurchschnitt nur noch bei 43,67 Dollar pro Barrel. Seit September 2014 waren die Preise abgestürzt und lagen schon 2015 nur noch bei 52,32 Dollar pro Barrel.

Auslöser des Preisverfalls war ein globales Überangebot, hinter dem vor allem US-Unternehmen mit der neu entwickelten Frackingtechnik standen. Die maßgeblichen Kräfte Saudi-Arabiens hielten zunächst daran fest, trotz sinkender Ölpreise immer mehr Erdöl auf den Weltmarkt zu bringen, bevor sie diese ruinöse Strategie resignierend aufgaben und einer Zusammenarbeit mit Russland zustimmten. Ergebnis war die Veröffentlichung der »Declaration of Cooperation« am 10. Dezember 2016, des Gründungsdokuments der Arbeitsgemeinschaft OPEC plus.

Die Sache lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass die »Vision 2030« auf einem Optimismus und geradezu einer Zukunftseuphorie gebaut war, deren Grundlage schon fortgefallen war, als Mohammed bin Salman damit seinen ersten großen Auftritt hatte. Kronprinz war er zu diesem Zeitpunkt offiziell noch nicht; dazu ernannte ihn sein Vater erst im Juni 2017.

Leserbriefe müssen redaktionell freigeschaltet werden, bevor sie auf jungewelt.de erscheinen. Bitte beachten Sie, dass wir die Leserbriefe Montags bis Freitags zwischen 10 und 18 Uhr betreuen, es kann also einige Stunden dauern, bis Ihr Leserbrief freigeschaltet wird.

Sie erklären sich damit einverstanden, dass wir dessen Inhalt ggfls. gekürzt in der gedruckten bzw. Online-Ausgabe der Tageszeitung junge Welt und in sog. sozialen Netzwerken wiedergeben können. Es besteht kein Anspruch auf Veröffentlichung. Die junge Welt behält sich Kürzung Ihres Leserbriefs vor.

Bitte beachten Sie unsere Netiquette (einblenden / ausblenden)

Netiquette

Liebe Leserin, lieber Leser,

bitte beachten Sie die folgenden Hinweise für Ihre Beiträge zur Debatte.

Ihr Leserbrief sollte sich auf das Thema des Artikels beziehen. Veröffentlicht wird Ihr Beitrag unter Angabe Ihres Namens und Ihres Wohnortes. Nachname und Wohnort können abgekürzt werden. Bitte denken Sie daran, dass Ihr Text auch nach Jahren noch im Internet auffindbar sein wird. Wir behalten uns eine redaktionelle Prüfung vor, ein Anspruch auf Veröffentlichung besteht nicht.

Für uns und unsere Leser sind Ihre eigenen Argumente interessant. Texte anderer sollen hier nicht verwendet werden. Bitte bleiben Sie auch im Meinungsstreit höflich. Schmähungen oder Schimpfwörter, aggressive oder vulgäre Sprache haben hier keinen Platz. Denken Sie daran: »Auch der Haß gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge.« (Bertolt Brecht)

Äußerungen, die als diskriminierend, diffamierend oder rassistisch aufgefasst werden können, werden nicht toleriert. Hinweise auf kommerzielle Angebote jeder Art sind ausdrücklich nicht gewünscht. Bitte achten Sie auf die Orthografie und bitte nicht »schreien«: Beiträge, die in Großbuchstaben abgefasst wurden, werden von uns gelöscht.

Die Moderation bedeutet für unsere Redaktion einen zusätzlichen Aufwand: Leserbriefe zu älteren Artikeln sind deshalb nur befristet möglich. Außerdem kann es etwas Zeit in Anspruch nehmen, bis die Redaktion Ihren Leserbrief bearbeiten kann, dafür bitten wir um Verständnis. Orthografische Änderungen durch die Moderation machen wir nicht kenntlich, Streichungen mit eckigen Klammern.

Viel Freude am Debattieren!

                                     Heute 8 Seiten extra – Beilage zum Thema: Marx in Afrika