75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Freitag, 5. Juli 2024, Nr. 154
Die junge Welt wird von 2836 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €

Leserbrief verfassen

Betr.: Artikel »Sie hat viele Menschen geschützt«

Artikel »»Sie hat viele Menschen geschützt«« einblenden / ausblenden

»Sie hat viele Menschen geschützt«

Schleswig-Holstein: CDU will in Neumünster Straßenbenennung nach Kommunistin Anni Wadle verhindern. Ein Gespräch mit Heinrich Wadle

Der Ortsteilbeirat in Neumünster-Einfeld hatte vergangenes Jahr beschlossen, eine Straße in einem Neubauviertel nach Ihrer Mutter, der Antifaschistin und Widerstandskämpferin Anni Wadle zu benennen. Jetzt soll es diesen Straßennamen doch nicht geben. Was ist passiert?

Die Initiative gegen den Straßennamen ging von der örtlichen CDU aus. Sie berief sich auf formelle Fehler im Ortsteilbeirat, um den Beschluss rückgängig zu machen. Sie begründete dies mit ihrer Aktivität als Kommunistin, angebliche Verfassungsfeindin. Der Vorsitzende der CDU-Ratsfraktion hat sogar einen Historiker beauftragt, der Artikel meiner Mutter untersuchen sollte. Sie hatte in den letzten Jahren der Weimarer Republik bei KPD-Zeitungen in Norddeutschland gearbeitet.

Und fand der Historiker etwas, das die These der CDU stützt?

Das ist Interpretationssache. Die politischen Parteien haben sich gegenseitig bekämpft und über ihre Zeitungen beschimpft. Zum Vorwurf wird ihr die sogenannte Sozialfaschismustheorie gemacht, die die KPD damals vertrat. Unter den Tisch fällt aber, dass auch zum Beispiel die SPD im Vorwärts Kommunisten regelmäßig als Rotfaschisten beschimpfte.

Schrieb Ihre Mutter die fraglichen Artikel?

Nein, sie war im Kinder- und Jugendbereich tätig. Sie war aber die sogenannte Sitzredakteurin, also juristisch verantwortlich und musste Strafen absitzen. Geld, um Strafen zu zahlen, hatten linke Zeitungen damals nicht. Und die damals schon sehr braune Justiz war immer eifrig dabei, wenn es darum ging, gegen kommunistische Zeitungen vorzugehen. So war meine Mutter bei der Machtübertragung an die Faschisten schon mehrmals vorbestraft und polizeibekannt.

Blieb Ihre Mutter danach aktiv?

Sie war als Kurierin für die KPD in Hamburg tätig, im Untergrund. Sie hat illegale Treffs organisiert und war daran beteiligt, illegale Zeitungen aus Dänemark über die Grenze zu schmuggeln. Es war eine relativ große Widerstandsgruppe. Meine Mutter wurde schließlich am 15. September 1933 von der Gestapo verhaftet, verhört und gefoltert. Durch schwere Folter wurde sie ohnmächtig und trug zeitlebens Schwerhörigkeit und weitere Schäden davon. Sie hat niemanden verraten und dadurch viele Menschen geschützt. Sie kam ins Gefängnis nach Lübeck Lauerhof.

1936 hatte sie ihre Strafe abgesessen, wurde aber nicht freigelassen, sondern direkt ins Konzentrationslager Fuhlsbüttel bei Hamburg und dann ins KZ Moringen nördlich von Göttingen gebracht, eines der ersten Lager für weibliche Schutzhaftgefangene. Auf Intervention eines Arztes, der auf ihren sehr schlechten Gesundheitszustand hinwies, kam sie frei. Sie fand schließlich Arbeit in einer Seifenfabrik. Eine sehr schwere Arbeit, sie war sehr geschwächt. 1938 heiratete sie meinen Vater, den Kommunisten Hein Wadle. Hein wurde 1942 wieder verhaftet und kam ins Zuchthaus Brandenburg-Görden, dort wurde er von der Roten Armee befreit.

Wie ging es für Ihre Familie nach der Befreiung weiter?

Mein Vater wurde zunächst von der Roten Armee als stellvertretender Landrat und Leiter der landwirtschaftlichen Abteilung in Mecklenburg verpflichtet. Er sollte später eine Ergebenheitsadresse für Josef Stalin schreiben, wollte das aber nicht. Das war für ihn der Anlass, wieder in seine Heimat nach Kiel zurückzukehren.

Sahen nicht die meisten Kommunisten Stalin damals eher unkritisch?

Mein Vater hat Stalin schon immer kritisch gesehen.

Nach 1947 wurden meine Eltern unter anderem in der VVN aktiv. Meine Mutter schrieb Reden für meinen Vater, der als Gewerkschafter und Betriebsrat bei den Howaldtswerken regional bekannt war. So spielte er auch beim berühmten Metallarbeiterstreik von 1956 eine führende Rolle. Wir lebten lange im Arbeiterviertel Kiel Gaarden, bis die Werkswohnung gekündigt wurde und wir nach Neumünster ziehen mussten. Beide blieben bis zu ihrem Tod ihren Ideen treu, erst der KPD, dann der DKP. Mein Vater starb 1985, meine Mutter 2002. Sie hat 1988 ihre Lebensgeschichte in einem Buch mit dem Titel »Mutti, warum lachst du nie?« veröffentlicht.

In Kiel gibt es eine Straße und den Stadtteilladen namens »Anni Wadle«. Haben Sie noch Hoffnung, dass in Neumünster eine Straße nach Ihrer Mutter benannt wird?

Man weiß nie, was passieren wird. Aber dazu müssten sich die Mehrheitsverhältnisse im Rat in Neumünster ändern.

Leserbriefe müssen redaktionell freigeschaltet werden, bevor sie auf jungewelt.de erscheinen. Bitte beachten Sie, dass wir die Leserbriefe Montags bis Freitags zwischen 10 und 18 Uhr betreuen, es kann also einige Stunden dauern, bis Ihr Leserbrief freigeschaltet wird.

Sie erklären sich damit einverstanden, dass wir dessen Inhalt ggfls. gekürzt in der gedruckten bzw. Online-Ausgabe der Tageszeitung junge Welt und in sog. sozialen Netzwerken wiedergeben können. Es besteht kein Anspruch auf Veröffentlichung. Die junge Welt behält sich Kürzung Ihres Leserbriefs vor.

Bitte beachten Sie unsere Netiquette (einblenden / ausblenden)

Netiquette

Liebe Leserin, lieber Leser,

bitte beachten Sie die folgenden Hinweise für Ihre Beiträge zur Debatte.

Ihr Leserbrief sollte sich auf das Thema des Artikels beziehen. Veröffentlicht wird Ihr Beitrag unter Angabe Ihres Namens und Ihres Wohnortes. Nachname und Wohnort können abgekürzt werden. Bitte denken Sie daran, dass Ihr Text auch nach Jahren noch im Internet auffindbar sein wird. Wir behalten uns eine redaktionelle Prüfung vor, ein Anspruch auf Veröffentlichung besteht nicht.

Für uns und unsere Leser sind Ihre eigenen Argumente interessant. Texte anderer sollen hier nicht verwendet werden. Bitte bleiben Sie auch im Meinungsstreit höflich. Schmähungen oder Schimpfwörter, aggressive oder vulgäre Sprache haben hier keinen Platz. Denken Sie daran: »Auch der Haß gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge.« (Bertolt Brecht)

Äußerungen, die als diskriminierend, diffamierend oder rassistisch aufgefasst werden können, werden nicht toleriert. Hinweise auf kommerzielle Angebote jeder Art sind ausdrücklich nicht gewünscht. Bitte achten Sie auf die Orthografie und bitte nicht »schreien«: Beiträge, die in Großbuchstaben abgefasst wurden, werden von uns gelöscht.

Die Moderation bedeutet für unsere Redaktion einen zusätzlichen Aufwand: Leserbriefe zu älteren Artikeln sind deshalb nur befristet möglich. Außerdem kann es etwas Zeit in Anspruch nehmen, bis die Redaktion Ihren Leserbrief bearbeiten kann, dafür bitten wir um Verständnis. Orthografische Änderungen durch die Moderation machen wir nicht kenntlich, Streichungen mit eckigen Klammern.

Viel Freude am Debattieren!