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Überraschungssieger im Iran
Präsidentenwahl: »Reformer« Peseschkian auf Platz eins. Stichwahl nötig. Viel hängt von der Wahlbeteiligung ab
Nach der Wahl ist vor der Wahl: Da keiner der vier Kandidaten der iranischen Präsidentenwahl am vergangenen Freitag die absolute Mehrheit erzielen konnte, gehen die beiden Erst- und Zweitplatzierten in die Stichwahl. An erster Stelle liegt Massud Peseschkian, der zum »Reformlager« gehört, mit 10,42 Millionen Stimmen (44,4 Prozent). Ihm folgt mit deutlichem Abstand der Konservative Said Dschalili mit 9,47 Millionen Stimmen (40,4 Prozent). Den dritten Platz belegt Parlamentssprecher Mohammad Bagher Ghalibaf mit rund 13 Prozent. Mostafa Purmohammadi, der von 2005 bis 2008 Innenminister und von 2013 bis 2017 Justizminister war, liegt weit abgeschlagen bei 0,9 Prozent.
Nach dem vorläufigen Endergebnis gaben nur 24,5 Millionen der 61,5 Millionen wahlberechtigten Iraner ihre Stimme ab. Das entspricht einer historisch schlechten Wahlbeteiligung von knapp 40 Prozent, weniger als bei der vergangenen Präsidentenwahl von 2021. Diese hatte mit 48,5 Prozent schon die niedrigste Wahlbeteiligung seit der »Islamischen Revolution« von 1979. Zudem waren eine Million Stimmzettel ungültig. Bei früheren Präsidentenwahlen hatte es regelmäßig Beteiligungen von über 70 Prozent gegeben. Am höchsten war die Beteiligung mit 85,2 Prozent im Jahr 2009, als Mahmud Ahmadinedschad gegen den »Reformer« Mir Hossein Mussawi für eine zweite Amtszeit kandidierte.
Die Wahl am Freitag war notwendig geworden, weil der bisherige Amtsinhaber Ebrahim Raisi am 19. Mai bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben kam. Während des kurzen Wahlkampfs hatten der gesamte Staatsapparat und die Medien Dauerpropaganda für eine hohe Beteiligung gemacht, da diese entscheidend für die Stärkung des iranischen Einflusses »in der Region und darüber hinaus« sei, wie es Außenministeriumssprecher Nasser Kanaani ausdrückte. Vor diesem Hintergrund kommt das blamable Resultat einem bewussten oder resignativen Wahlboykott von großen Teilen der Bevölkerung gleich.
Zunächst hatten sich rund 80 Bewerber für die Teilnahme an der Wahl registrieren lassen. Darunter waren Mahmud Ahmadinedschad, Präsident in den Jahren 2005 bis 2013, und Ali Laridschani, Sekretär des Obersten Nationalen Sicherheitsrats und Chefunterhändler in den internationalen Verhandlungen über das iranische Atomprogramm von August 2005 bis Oktober 2007. Der mächtige »Wächterrat« – ein hauptsächlich durch »Revolutionsführer« Ali Khamenei bestimmtes Gremium – lehnte diese beiden Politiker ebenso wie die meisten anderen Bewerber ab und ließ nur sechs Kandidaten zur Wahl zu. Zwei von diesen, Teherans Bürgermeister Aliresa Sakani und Ghasisadeh Haschemi, einer der amtierenden Vizepräsidenten, zogen ihre Kandidatur wenige Tage vor der Wahl zurück, da ihre Umfrageergebnisse bei zwei bis drei Prozent lagen.
Die Stichwahl zwischen Peseschkian und Dschalili soll am kommenden Freitag stattfinden. Die beiden Konkurrenten sind erkennbar gegensätzlich: Dschalili war Irans Chefunterhändler der iranischen Atomverhandlungen von Oktober 2007 bis September 2013. Er vertritt eine Außenpolitik ohne Zugeständnisse an den Westen und kritisiert die 2015 geschlossene Wiener Nuklearvereinbarung, die Donald Trump als US-Präsident im Mai 2018 aufkündigte. Peseschkian hingegen war Gesundheitsminister in der zweiten Amtszeit von Präsident Mohammad Khatami während der Jahre 2001 bis 2005. Dieser war 1997 mit vielen Reformversprechen angetreten, von denen er aber nur wenig in die Praxis umsetzen konnte. Peseschkian steht für einen innenpolitisch liberaleren Kurs und Kompromissbereitschaft gegenüber dem Westen.
Während der fünf Fernsehdebatten der Kandidaten, die zwischen dem 17. und 24. Juni stattfanden, punktete Peseschkian mit Kritik am Hidschab-Zwang und an der repressiven, oft übergriffigen Art, wie dieser von den Staatsorganen durchgesetzt wird. Iran könne es sich angesichts seiner bedrängten Lage nicht leisten, große Teile seiner Jugend und Bevölkerung zu verlieren. Peseschkians Chancen, die Stichwahl zu gewinnen, sind gering. Bei einer hohen Wahlbeteiligung, wenn also viele Kritiker der herrschenden Verhältnisse zur Wahl gingen, wäre es aber nicht ganz auszuschließen.