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Medusa möchte nicht

Die Gurkenkönige: Tijan Sila gewinnt das Wettlesen um den Bachmann-Preis

Alle Preise sind vergeben – und doch herrscht keine Ruhe. Auf den beiden Zuschauertribünen im ORF-Theater Klagenfurt sitzen noch vereinzelt Zuhörer, das dreiköpfige Kamerateam im Saal erhält letzte Anweisungen aus dem Regieraum. Draußen hat auch die 3sat-Crew den Kran im Bachmann-Park noch nicht abgebaut, die Liegestühle vor der Leinwand sind nicht vollends geleert. Für die Gewinnerinnen und Gewinner der diesjährigen 48. Tage der deutschsprachigen Literatur (TddL) ist nach dem Bewerb vor dem Bewerb: Gleich werden sie Journalisten von Deutschlandfunk, 3sat und ORF die ersten Interviews geben.

Am Sonntag mittag ist das diesjährige Bachmann-Preis-Wettlesen in Klagenfurt zu Ende gegangen. Nicht allen Mitgliedern der siebenköpfigen Jury ist es gelungen, die nominierten Schäfchen am Ende auch ins Trockene zu bringen. Sie bestand in diesem Jahr aus dem Grazer Literaturwissenschaftsprofessor Klaus Kastberger, Mara Delius, Leiterin der Welt-Literaturbeilage, aus Die Furche-Feuilletonchefin Brigitte Schwens-Harrant, dem 2001 selbst für den Ingeborg-Bachmann-Preis nominierten Autor Philipp Tingler, der freien Journalistin und Kritikerin Mithu Sanyal sowie der Kolumnistin Laura de Weck und dem Literaturwissenschaftler Thomas Strässle, beide tätig für den SRF.

Der Chor der Kritiker bemängelte immer wieder sprachliche Ausführungen – »knapp daneben« –, urteilte streckenweise idiosynkratisch – »ich mag Harry Potter nicht« – und übte sich in literaturwissenschaftlichen Verweisen. Einer der markantesten kam im Anschluss an Johanna Se­bauers Lesung von »Das Gurkerl« – einer Satire über eine Zeitungsredaktion unter Zeitdruck, in der unbedeutende Nachrichten zu »Breaking News« hochgeschaukelt werden und ein Redakteur sich zum »Gurkenkönig« aufschwingt. Mit einem Gemüsediktator im Kinderbett hatte Christine Nöstlinger ihre jungen Leser früh für Elemente totalitärer Herrschaft sensibilisiert, die österreichische Kinderbuchautorin wurde als Referenz ins Feld geführt.

Mithu Sanyal, Kulturwissenschaftlerin mit Faible für Grenzüberschreitendes und Hybrides, konnte sich mit ihrer Verteidigung von Miedya Mahmods »Es schlechter ausdrücken wollen. Oder: Ba, Da« nicht durchsetzen. Anders als erwartet, hatte Mahmod keine viktimisierende Erzählung über das Aufwachsen in Migrationsmilieus geschrieben. Am Sonnabend nachmittag präsentierte sich sie als Medusenhaupt mit Zungenrede und verabschiedete sich mit Herman Melvilles Bartleby schroff von der Bühne: I would prefer not to. Während des Lesens verdichtete sich ihre Spoken-Work-Prosa zu einem mehrsprachigen Stream of (Un)Consciouseness, vergleichbar mit einer Partitur, die man alleine nicht lesen kann. Angesichts ihres Vortrags kam die Frage auf, ob sich Literatur aus dem Geschriebenen allein überhaupt erschließen könne.

Es kümmert offenbar wieder, wer hier spricht – und in welches soziale Verhältnis dieses Sprechen einen Autor zu seinen Kritikern rückt. Im Falle von Denis Pfabes neurotischem Baumarktszenario »Die Möglichkeit einer Ordnung« hat es für den mit 12.500 Euro dotierten Deutschlandfunk-Preis gereicht. Johanna Sebauer bekam für ihren »Gurkerl«-Text den per Onlinevoting vergebenen Publikumspreis samt Stadtschreiberstipendium sowie den 3sat-Preis. Um 10.000 Euro reicher geht die slowenisch-österreichische Autorin Tamara Štajner nach Hause, für ihren affektgeladen vorgetragenen Brief an die Mutter erhielt sie den Kelag-Preis. Der 25.000 Euro schwere Hauptpreis ging hingegen an Tijan Sila. Der in Kaiserslautern lebende Lehrer hat mit seinem Text die Traumabewältigung einer bosnischen Familie in Deutschland tragikkomisch zugespitzt.

Die meisten Liegestühle für das Public Viewing am Klagenfurter Lendhafen sind schon verschwunden, vor dem stillgelegten Screen findet sich noch ein letzter. »Es ist eine schöne Zeit, wenn der Dattelkern keimt! Jeder, der fällt, hat Flügel« steht auf der roten Lehne. Ein anderes Bachmann-Zitat aus dem Roman »Malina«, auf das Klaus Kastberger während der Jurydiskussion zur Präsenz des Vergangenen verwies, hätte wohl besser zu unserer Gegenwart gepasst: »Der Justizpalast brennt.«

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