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Der ewige Sündenbock

Fakten sprechen lassen: Raquel Erdtmanns Report über den Justizmord an Joseph Süßkind Oppenheimer

Manchmal genügt die Literatur nicht. Ein Roman kann die Wirklichkeit durchsichtig machen, so dass die tieferen, in den Zeitumständen und den Charakteren verborgen waltenden Kräfte ans Licht kommen. Der Erzähler kann die realen Verhältnisse aber auch verdunkeln, indem er Dinge beimischt, die vielleicht dem aktuellen Publikumsgeschmack schmeicheln – etwa indem man Eroticis erfindet oder kräftig ausmalt –, aber die historische Wahrheit verfälschen. Der Bestsellerautor Lion Feuchtwanger verfuhr so, als er das Leben des Finanzgenies Joseph Süs Oppenheimer in seinem Roman »Jud Süß« einfing. Dass später der Naziregisseur Veit Harlan diese Zutat für sein Machwerk ausschlachte, ist nicht seine Schuld.

Die Gerichtsreporterin Raquel Erdtmann macht es in ihrem Buch mit dem treffenden Untertitel »Ein Justizmord« anders als der Romancier Feuchtwanger: Sie lässt die Fakten sprechen, die sie aus dem Studium der historischen Prozessakten von 1737/38 gewonnen hat, und zitiert in ihrer Lebensbeschreibung überhaupt nur dann wörtliche Rede, wenn Briefe für persönliche Äußerungen oder die Verhörprotokolle für mündliche Mitteilungen bürgen. Ein trockenes Referat ist das Buch deshalb keineswegs, besser schon ein lebendiges Geschichtsbuch, weil die Autorin die ganze Geschichte des sogenannten Hofjuden Oppenheimer erzählt, und dies stets vor dem bestens recherchierten Hintergrund jüdischen Lebens seiner Zeit.

Fähiger Finanzmann

Für die allermeisten Juden war es ein Dasein in Armut und Enge; diskriminiert als Minderheit und eingepfercht in winzigen, verbauten Ghettos, konnten die wenigsten sich herausarbeiten. Einer von ihnen war Joseph Süs Oppenheimer, der es mit Glück und Genie als Händler und Bankier bis in höchste Kreise schaffte. Carl Alexander, durch einen Zufall zum Herzog von Württemberg geworden, wollte das arme Ländle zu einem absolutistischen Musterstaat ausbauen. Dazu brauchte er einen fähigen Finanzmann und fand ihn in Oppenheimer, der sich in Mannheim, Heidelberg und Frankfurt am Main hochgearbeitet und seine Geschäfte bereits bis nach Köln und Amsterdam ausgeweitet hatte.

In Stuttgart sollte er den Staat nach modernen ökonomischen Grundsätzen umbauen. Und schon bald musste er als »Kriegs- und Hoffaktor« gegen den Widerstand der schwäbischen Stände und Stadtbürger und gegebenenfalls unter Umgehung von Gesetzen Geld heranschaffen, für den Ausbau des Landes wie für die luxuriöse Hofhaltung. Der Jude erledigt das anfangs mit Bravour, aber zunehmend unwillig; er will gehen, doch als Jude darf er das Land nicht verlassen. Dann stirbt Carl Alexander plötzlich, und die aufgestaute Wut der Untertanen auf den Herzog und die Modernisierung findet im Juden den Sündenbock. Nur Stunden nach dem Tod des Regenten wird sein Finanzrat arretiert.

Bis zur Hinrichtung

Was folgt, ist ein Schauprozess, der sich fast ein Jahr hinzieht. Beweise sind Mangelware, aber der reiche Hausrat des Juden wird schon mal arisiert, pardon: versteigert. Gestehen will der Jud nicht, aber die KZ-Haft, nein: die Einkerkerung auf dem Hohenasperg sorgt dafür, dass der zuvor so fein Gekleidete verkommt und am Ende fast wie ein Tier vegetiert, bis auf die Knochen abgemagert ist. Das Todesurteil steht von Anfang an fest, vor dem ihn auch der (standhaft verweigerte) Übertritt zum Christentum nicht gerettet hätte – auch dies ein Vorschein auf das spätere Schicksal assimilierter Juden. Nicht zu vergessen: Von der Enteignung über die entmenschlichenden Haftbedingungen bis zur Hinrichtung, richtiger: Ermordung spielen die Juristen als willige Vollstrecker mit.

Das alles ist Geschichte und in einem höheren Sinn nicht nur die von vor bald 300 Jahren. Oder anders formuliert: Raquel Erdtmanns Report lässt den Schluss zu, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholt – sondern es immer noch schlimmer werden kann.

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