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Tristesse global

Depression der Linken: Die Jenaer Abschiedsvorlesung des Soziologen Klaus Dörre

Schweißtreibende Schwüle in der überfüllten Aula der Friedrich-Schiller-Universität zu Jena. Mehr als 300 Menschen sind zur Abschiedsvorlesung des Soziologieprofessors Klaus Dörre gekommen. Es ist eine Art linkes Klassentreffen. Die Bundesvorsitzende der Partei Die Linke Janine Wissler ist ebenso angereist wie Hans-Jürgen Urban vom Vorstand der IG Metall. Die Ratlosigkeit ist mit Händen zu greifen. »Die Linke ist im freien Fall«, sagt Dörre gleich zu Beginn, spricht von einer »existentiellen Krise«. Gibt es eine Zukunft für die Linke und wie könnte sie aussehen?

Der 66jährige Dörre hat sich in 30 Jahren einen Namen gemacht als Analyst des Finanzmarktkapitalismus, hat die »Landnahme« durch das kapitalistische System untersucht. Und er warnte früh vor einer neuen faschistischen Gefahr, wurde dafür noch 2016 ausgelacht. Heute sieht er die Gesellschaft in einer »historischen Wechselphase, die danach verlangt, links und rechts neu zu definieren«. Die Themen öffentliche Sicherheit, aber auch Krieg und Frieden bildeten »das Haupteinfallstor für eine radikale Rechte«.

Rückblende: die Proteste von ­ATTAC, die guten Ergebnisse der Bewegungen Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien, die Demonstrationen von »Fridays for Future«. Dörre versucht den folgenden Niedergang, gerade in Deutschland, zu erklären. »Die Linke hat es nicht vermocht, die Hoffnungen der Menschen zu erfüllen.« Ihre Versprechen für eine bessere Gesellschaft habe sie »nirgendwo eingelöst«. Der Wissenschaftler sieht durchaus Parallelen zu den späten Jahren der Weimarer Republik. Damals habe eine gespaltene Linke den Menschen nichts anbieten können; davon habe die NSDAP profitiert. Tatsächlich feierten die Nazis frühe Erfolge in genau den ländlichen Gebieten Thüringens, in denen heute die AfD stark ist.

Mehrere Thesen arbeitet Dörre unter dem Titel »What’s left?« heraus. »Eine Linke für das 21. Jahrhundert ist noch nicht geboren, sie muss erst entstehen.« Und: »Die Linke benötigt ein Befreiungsprojekt!« Den Schlüssel dafür erkennt Dörre in der »Klassenproblematik«. Eine kleine Elite von nur 0,9 Prozent der Menschen entscheide über die Produktion: »Der große Rest der Gesellschaft ist von solchen Entscheidungen ausgeschlossen.« Einen Ansatzpunkt sieht der Soziologe im sozial-ökologischen Umbau der Produktion, der gerade im Gange ist. »Er bietet Chancen auf gute, weil sinnvolle Arbeit und ein besseres Leben für alle.« Dazu aber müsse in den Betrieben die Frage »nach der Entscheidungsmacht über die Produktion« gestellt werden. Dazu gehöre ein »Produktionsstreik«, also die Weigerung der Beschäftigten, bestimmte Produkte weiter herzustellen.

Mehrere weiße Elefanten stehen zu diesem Zeitpunkt in der überfüllten Aula: Was ist mit der Migration, mit dem Krieg in der Ukraine und dem Gemetzel im Gazastreifen? Also den Themen, mit denen das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) bei den jüngsten Wahlen große Erfolge erzielte? Am Ende kommt Dörre auf alle drei zu sprechen. Er bekennt sich zur Migration. Ohne die Zuwanderung könne man in »systemerhaltenden Berufen« wie Altenpflege, Post, Human- und Zahnmedizin »den Laden dichtmachen«. Der Angriffskrieg in der Ukraine sei »durch nichts zu rechtfertigen«. Das Selbstverteidigungsrecht des ukrainischen Volkes dürfe aber »nicht zu einer widerspruchslosen Militarisierung der Gesellschaft führen«. Beifall brandet auf, als der Redner festhält: »Die Linke muss immer eine Antikriegslinke sein, die für rasche Verhandlungen eintritt.« Und dann zeigt der passionierte Anhänger von Borussia Dortmund das durchgestrichene Logo des Vereins. Sein Protest gegen den Rüstungskonzern Rheinmetall als Sponsor des Fußballklubs: »Bei Rheinmetall hört der Spaß auf!«

Und schließlich zu Gaza. Dörre nennt die Hamas eine Terrororganisation. Das rechtfertige aber keineswegs das Vorgehen der israelischen Armee: »Kriegsverbrechen bleiben Kriegsverbrechen, gleich, wer sie begeht!« Am Ende feiert das Publikum den Soziologen mit stehendem Applaus. Viele Fragen bleiben offen. Der Abend klingt aus an der romantischen Saale in einem Gartenlokal mit dem schönen Namen »Paradies«.

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