Leserbrief zum Artikel Deutsche Zustände: Der Geist der Nation
vom 19.09.2018:
Gegen die Ausgebeuteten
Der marxistische Theoretiker Domenico Losurdo erinnert daran, dass Nation und Rasse keineswegs dasselbe sind. Die erste gründet sich auf der Idee der Gleichheit der Bürger, die zweite auf der Idee der Ungleichheit (1). Auf die Gleichheitsforderung beruft sich in Chemnitz, Dresden und anderswo in Ostdeutschland die Mehrheit der Demonstranten, wenn sie Deutschlandfahnen schwenken und »Wir sind das Volk!« rufen. Das ist unbedingt zu differenzieren von den wirklichen Rassisten und Nationalisten, die aus einem Überlegenheitsdenken und Ungleichheitsverständnis handeln und sich an die Spitze solcher Demonstrationen setzen und die berechtigten Sorgen der einfachen Menschen für sich instrumentalisieren.
Die Rechten können immer erfolgreicher die Arbeiter, kleine Handwerker, Angestellten und Arbeitslosen hinter sich versammeln, weil diese sich vom neoliberalen Projekt der offenen Grenzen und einer offenen Gesellschaft, das Ihr vehement vertretet, nachvollziehbar bedroht fühlen. Ihr stellt sie jedoch voreilig in die rechte Ecke und beschimpft sie, statt sie zu verstehen und zu gewinnen – welch ein Fehler!
Die soziale Identität ist in der modernen Gesellschaft von der Stellung im Erwerbsprozess abhängig, und diese ist bekanntlich prekär geworden. Sie ist allerdings viel mehr gefährdet bei den arbeiterlichen Schichten als bei den abstiegsgefährdeten Intellektuellen, die Ihr vertretet, weil jene von repulsiver produktiver Arbeit betroffen sind. Die Studierten hingegen verfügen über deutlich mehr gültige und wertighaltige kulturelle und soziale Ressourcen. Der bürgerliche Kosmopolitismus richtet sich jedoch gegen die ausgebeutete Klasse im eigenen Land. (...)
(1) Domenico Losurdo, Die Deutschen - Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes?, Berlin 2010, S. 98 f.
Kommentar jW:
Zu diesem Leserbrief ist eine Antwort des Autors eingegangen:
Wer verachtet wen?
Zu jW vom 19.9.: »Geist der Nation«
Die beiden Zuschriften zum Artikel »Geist der Nation« (19.9.18) nehmen die »einfachen Menschen«, die sich von CDU, CSU und zunehmend von der AfD vertreten lassen und zum Teil auf »Ausländer raus!«-Demos aktiv werden, vor dem Vorwurf des »gehässigen Nationalismus« in Schutz. Die Kritik des Fehlers, alle Nöte ihres Alltags für belanglos zu halten angesichts des Umstands, dass sich in ihrer deutschen Heimat Ausländer tummeln, haben sie durchaus bemerkt – und verwerfen sie als »Verachtung des Volkes«, das »voreilig in die rechte Ecke gestellt und beschimpft werde, anstatt es zu verstehen und zu gewinnen«. Das weise ich zurück. Ich habe die, die sich da als Volk zu Wort melden, sehr gut verstanden: Da gehen Leute mit nichts als der untertänigen Forderung nach einer ordentlichen Herrschaft in die Offensive, auf die sie als Deutsche ein Vorrecht haben, und dieses eingebildete Recht schließt die Drangsalierung all jener mit ein, denen man es abspricht.
Verstehen heißt für die Autoren offenbar nicht, den Fehler zu kapieren, den es braucht, um Migranten für alle Ärgernisse des kapitalistischen Alltags verantwortlich zu machen, sondern Verständnis für ihn aufzubringen: Die »arbeiterlichen Schichten« mit ihren »berechtigten Sorgen« und ihrer »prekären Lage« würden doch nur von »Nationalisten und Rassisten instrumentalisiert«, die sich »an die Spitze solcher Demonstrationen setzen«.
Und wer verachtet jetzt hier wen? Ich halte jedenfalls Leute, die mit der Parole »Ausländer raus!« oder »Wir sind das Volk« antreten, nicht für so dumm, dass sie nicht wüssten, wofür sie da demonstrieren. Auch halte ich diese »kleinen Leute« nicht für eine orientierungslose Schafherde, die auf der Suche nach Führung herumirrt und nur deswegen dem nächstbesten rechten Arschloch hinterherläuft, weil keine verständnisvolle linke Führung ihre Ressentiments aufgreift und ihnen »Perspektiven« verkauft, hinter denen sie lieber herlaufen sollten.
Ich nehme die Leute, die in Chemnitz, Köthen und sonstwo aufmarschieren, lieber ernst und beim Wort, weswegen ich ihnen den Fehler ihrer Ausländerfeindschaft vorrechne und sie, wenn schon zu etwas, dazu gewinnen will, ihn zu lassen. Eine Auseinandersetzung darüber bietet die Gegenstandpunkt-Redaktion in den nächsten Wochen in vielen Städten an, Infos dazu unter www.gegenstandpunkt.com/veranstaltungen.
Peter Decker