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Leserbrief zum Artikel Hintergrund: Mit dem Sozialismus rechnen vom 05.10.2018:

Falscher Ansatz

Es ist natürlich zu begrüßen, wenn sich die junge Welt mal wieder mit der Planwirtschaft beschäftigt. Jedoch wirkt die Form der Planwirtschaft, die der schottische Informatiker Paul Cockshott ausgetüftelt hat, eher abschreckend.
Er will nämlich alle Arbeiter, basierend auf Input-Output-Tabellen, nach ihrer Produktivität in drei Kategorien einteilen, in A-, B- und C-Arbeiter. Damit will er das Problem der Arbeitsproduktivität lösen, die ja in den Ländern des Realsozialismus geringer war als im Kapitalismus.
Eine solche Brandmarkung z. B. als C-Arbeiter ist meiner Meinung nach mit dem Menschenbild des Sozialismus völlig unvereinbar. Hier wird vielmehr die unmenschliche Arbeitsorganisation von Klitschen wie Amazon ins Extrem getrieben. Darüber hinaus wird auch nicht klar, wie Verflechtungsbilanzen, das ist der korrekte deutsche Begriff von Input-Output-Tabellen, dafür genutzt werden können.
Paul Cockshott hat offenbar den Akkordarbeiter vor seinem geistigen Auge, der am Fließband steht und mit einer solchen entwürdigenden Einstufung angepeitscht werden muss. Er ignoriert jedoch völlig die Tatsache, dass diese Art von Arbeit mit der zunehmenden Automatisierung am ehesten verschwinden wird, sowohl im Kapitalismus und erst recht im Sozialismus. Industriearbeit wird zunehmend zur geistigen Arbeit, wo Kreativität und Vorstellungsvermögen entscheidend sind. Den Wert einer solchen Arbeit kann man definitiv nicht mit Verflechtungsbilanzen erfassen. Sogar einige der fortgeschrittensten kapitalistischen Konzerne wie Google oder Microsoft haben diese Eigenart der geistigen Arbeit erkannt und zumindest den höheren Angestellten wie den studierten Informatikern und Softwareingenieuren den nötigen Freiraum für ihre Tätigkeit gegeben.
Umgekehrt war man in den sozialistischen Ländern durchaus nicht blöde. Der flächendeckende sozialistische Wettbewerb diente dazu, die Arbeiter zu höherer Leistung anzuspornen. Aber er wurde wenigstens auf der Ebene der Brigade geführt und damit in einer Form, die dem Sozialismus eher entsprach als das von Cockshott geforderte Einzelkämpfertum.
Cockshott sucht eine Lösung für ein Problem, das gar nicht existiert, denn die geringere Arbeitsproduktivität des Sozialismus hatte andere, vor allem makroökonomische Gründe, die man weder mit einer noch stärkeren Anpeitschung von individuellen Arbeitern noch mit mehr Marktelementen lösen kann.
Diese waren folgende:
• Übermäßig ehrgeizige, unrealistische Pläne, die auf Befehl der Staats- und Parteiführung ausgearbeitet wurden und Länder wie die DDR überforderten.
• Subjektivismus und teilweise groteske Fehlentscheidungen dieser Führung.
• Frustration der Bevölkerung über unzureichende Mitsprachemöglichkeiten sowohl im Betrieb als auch auf gesamtstaatlicher Ebene.
• Autoritäre Betriebsführung, besonders in der Sowjetunion.
• Bevorzugung von extensivem Wachstum durch Betriebsneugründungen über Rekonstruktionen bestehender Betriebe, vor allem in der Sowjetunion.
• Unzureichender Ausbau der Zulieferbetriebe, zu großer Anteil der Eigenproduktion der Kombinate, was die Spezialisierung und damit die Erhöhung der Arbeitsproduktivität einschränkt.
• Unzureichender Ausbau der Transport- und Kommunikationsnetzwerke
• Dogmatische Anwendung des Gesetzes vom Vorrang der Abteilung I.
Wenn Kosing, Seppmann, Blessing und wie sie alle heißen feststellen, die Sowjetunion sei vor allem beim Übergang vom extensiven zum intensiven Wachstum gescheitert, ist ihnen zuzustimmen. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass dieses intensive Wachstum nur durch Marktmechanismen erreicht werden kann, eher ist das Gegenteil der Fall. Im Kapitalismus arbeiten selbst in der BRD Millionen Menschen bei Banken und Versicherungen. Im Kern beschäftigen sie sich mit einer optimalen Ressourcenallokation nach kapitalistischen, einzelbetrieblichen Gesichtspunkten. Aber die gleichen Autoren lehnen es strikt ab, die Anzahl der Mitarbeiter der Plankommission zu erhöhen. Dadurch würde ein bürokratischer Wasserkopf entstehen. Aber was wäre so schlimm daran, die Anzahl dieser Mitarbeiter entsprechend der größeren Verflechtung der Wirtschaft zu vergrößern, um diese Verflechtung nachvollziehen zu können? Selbst wenn diese Mitarbeiteranzahl im Fall der DDR von 2.000 auf 4.000 oder gar 6.000 verdoppelt oder verdreifacht worden wäre, würden immer noch verhältnismäßig viel weniger Menschen mit der Ressourcenallokation beschäftigt sein als im Kapitalismus.
Cockshott und andere glauben, ein ganz bestimmtes Element gefunden zu haben, durch dessen Fehlen die Planwirtschaft gescheitert sei. Sie tüfteln dann an Systemen, die auf diesem Element aufbauen. Das ist aber der grundsätzlich falsche Ansatz. Eine verbesserte Planwirtschaft würde wahrscheinlich durch Optimierung der bestehenden Planungstechniken und Betriebsorganisationen in vielen unterschiedlichen Bereichen entstehen, die erst im Zusammenwirken nach einiger Zeit eine deutliche Verbesserung bewirken würden.
Jan Müller