Leserbrief zum Artikel Die Linke denkt über Grundeinkommen nach
vom 22.06.2020:
Elementare Pflicht
Fast schon ein alter Hut, die Idee vom Grundeinkommen. Die Beweggründe sowohl der Kapitalseite als auch der Lohnabhängigen sind einleuchtend. Im 18. Jahrhundert hatte der Engländer Thomas Spence bereits die Idee. Seither geistert sie durch Köpfe und Parteien, getrieben von den Widersprüchen und Ausgeburten der kapitalistischen Gesellschaft. Modelle und Versuche sind bekannt und werden diskutiert. Vom Milliardär Götz Werner bis zu Katja Kipping reihen sich die vehementen Vertreter eines bedingungslosen Grundeinkommens. Kapitalvertreter spekulieren sicher damit, vom sozialen Problem Arbeitslosigkeit befreit zu sein. Aus der Welt wird es kaum sein. Es wäre kaum mehr als verlagert, vernebelt. Wen sollte noch ein schlechtes Gewissen plagen? Seit Jahren stehen die Argumente der Befürworter und Ablehner gegeneinander. Ergebnisse und Klarheit über die praktische Umsetzung sind eher bescheiden. Während sich einige bereits bis ins Detail der gesellschaftlichen Finanzierung eines Grundeinkommens beschäftigen, sind grundlegende Fragen unbeantwortet. Ein Grundeinkommen ändert zunächst nichts am Ausbeutungsverhältnis, am Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, an grundlegenden ökonomischen Gesetzen. Höhe und Finanzierung eines Grundeinkommens sind unklar und könnten letztlich auch nur mit und in Konflikt zu lösen sein. Dann die Frage, wer steuert was bei. Die Kapitalseite ist bestens bekannt dafür, sich von Kosten, Steuern und sozialen Leistungen zu befreien und entlasten. Wer zahlt also wieviel, denn der Staat hat keine anderen als Steuereinnahmen? Über welche Steuer es auch finanziert werden soll, die Kosten hätten Gesellschaft und Unternehmen zu tragen. Wer kann glauben, dass ein Grundeinkommen mehr und besser, auskömmlicher sein kann und soll als ein Mindestlohn, ein besserers Hartz IV usw.? Nur ein anderer Begriff ändert nichts am Los und Schicksal von Lohnabhängigen und allen, denen die Gesellschaft Arbeit verwehrt. Im Jahr des 200. Geburtstages und 125. Todestages von Friedrich Engels ist vor allem den Grundeinkommensvertretern zu empfehlen, sich die Rolle der Arbeit für die Menschwerdung zu Gemüte zu führen. Besonders für Die Linke wäre es elementare Pflicht zur Erkenntnisgewinnung.
Veröffentlicht in der jungen Welt am 24.06.2020.