Pflichtstunde
Wer hätte vor Jahren geglaubt, zu welch großem und politisch nicht beherrschbarem Thema Rassismus in dieser angeblich demokratisch-freiheitlich rechtsstaatlichen Gesellschaft zu werden vermag? Potentiell war er immer existent, geleugnet, gehütet, formal verurteilend bedeckt gehalten. Das braucht es offenbar schon nicht mehr. Das eigentliche Problem »Rassismus« spielt bei aller Beteuerung von brutalsten Aufklärungen, Offenlegung und Aufarbeitung aller rassistischen Verbrechen kaum eine Rolle. Über gesellschaftliche und politische Quellen des rassistischen Sumpfes hat Stillschweigen zu herrschen. Bestenfalls dienen Einzeltätertheorie, das Vorbringen subjektiver Ursachen oder Erklärungsmuster à la »kriminelle, gewaltbereite, islamistische und anderweitige Ausländer, Flüchtlinge und Linke« dazu, das Thema Rassismus dahin zu drehen, wo die Ursachen sein sollen. Rassismus aller Ausprägung gehört dabei längst zum Markenzeichen des Gewaltapparates dieses Staates, hat seine ideologischen Wurzeln, Motivationen, Traditionen in der Politik dieses Staates seit seiner Gründung. Was bisher geleugnet, vertuscht, bestritten wurde, das breitet sich geradezu von Polizei, Bundeswehr bis zu Behörden, Geheimdiensten und Politik als Macht neben der angeblich demokratisch-freiheitlichen Gewalt aus. Die Satiresendung »Die Anstalt« brachte den realen, allgegenwärtigen Rassismus in diesem Lande mit einfachsten, überzeugendsten Mitteln auf einen beschämendsten und entlarvendsten Punkt. An jeder Schule und bis hinein in den Bundestag sollte diese »Unterrichtsstunde« zur Pflicht für politische Bildung ausgerufen werden. Haben wir nicht eine Institution für politische Bildung? Seien wir ehrlich, mit allen üblichen geforderten unabhängigen und was auch immer für Studien dürfte nichts mehr zu bessern sein. Wo und was ist hier unabhängig? Wer und was kann unabhängig sein? Es wäre an der Linken, wirklich Unabhängige zu benennen, die es durchaus mit Sach- und Fachkunde gibt, die aber bestimmt unerwünscht sind. Aber warum nicht auf den Tisch bringen?
Roland Winkler, Aue
Veröffentlicht in der jungen Welt am 23.07.2020.