Leserbrief zum Artikel Durchsuchungen bei »Reichsbürgern«
vom 09.07.2020:
Falsches Konstrukt
Als Hitler 1937 in Österreich einmarschierte, habe das Volk gejubelt. »Heim ins Reich« war die Devise. Endlich wieder vereint. »Geeinte Deutsche Stämme und Völker«, eine seit dem Frühjahr verbotene Reichsbürgergruppe, hätte sich gefreut. Gemäß Manfred Messerschmidt, Autor im voluminösen Band »Das deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg«, bedeutete der »Anschluss« die Erreichung eines der größten Ziele des Revisionismus und zugleich den Auftakt der Expansionsphase. Die deutsche Propaganda, so Messerschmidt, habe sich in geschickter Steuerung so ausgiebig mit den nationalgeschichtlichen Aspekten des Vorgangs befasst, dass der Eindruck entstehen konnte, die Herstellung einer lang erstrebten Identität werde schließlich zur Beruhigung des Kontinents beitragen können. In Wirklichkeit war es der Auftakt einer kriegerischen Expansionspolitik, die 65 Millionen Tote forderte. Mit welchen Mitteln sollten heute »deutsche Völker und Stämme« vereinigt werden? Wir erwarten eine ehrliche Antwort ihrer Propagandisten. Nationale Identität, in neuerer Zeit von der Gruppe der Identitären beschworen, aber nicht nur von dieser, ist ein philosophisches Kunstkonstrukt. Auch ein linker Politanalyst wie Fulvio Grimaldi bedient sich aus dieser Kiste. Ohne Identität kein Widerstand, ist sein Slogan. Diese Art der beschworenen Identität setzt eine ethnisch reine Bevölkerung voraus, die es in Wirklichkeit weder in Deutschland noch auf dem Balkan gibt oder je gegeben hat. Ein künstliches Konstrukt also, doch wozu dient es? Rechtsaußen-CDU-Mitglieder beklagen in mannigfacher Form, dass der Vertrag von Versailles ein Schandvertrag gewesen sei, dass Deutschland dadurch vernichtet worden sei. Viktor Orban will den Vertrag von Trianon aus der Welt schaffen. Alexander Dugin, russischer Politesoteriker, baut phantastische Szenarien einer multipolaren Welt, bestehend etwa aus fünf Großreichen, sogenannten Polen. Wer hat sie heraufbeschworen, diese Idee der großen Reiche? Wer hat sie revitalisiert? Wer hängt diesen Konzepten an? Wozu braucht der moderne Mensch eine »nationale Identität«, die unzweifelhaft rassistische Züge trägt? Sind dies alles etwa Gedankenspiele, die alte Sehnsüchte befriedigen wollen, um sich selbst zum Kaiser oder zum Zaren hochzustilisieren? Und die ihre Bevölkerung zu Untertanen degradieren wollen? Die gute alte Zeit – als man noch wusste, was Recht und Ordnung sind, als der Glaube alles bestimmte, als der Krieg ganze Generationen dezimierte … Wer wünschte sie herbei? Sklavenarbeit war Alltag, man sah sie nicht, die Opfer. Heute ist man gezwungen, sie zu sehen. Als Migranten stören sie unser Bild der heilen Welt. Leider neigen viele, die es besser wissen sollten, dazu, derlei Gedankenkonzepte von Identität oder den neuen Großreichen nicht ernst zu nehmen. Diese Ignoranz könnte sich als gewaltiger Fehler erweisen.
Veröffentlicht in der jungen Welt am 24.07.2020.