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Leserbrief zum Artikel Moskau: »Kollaps« der Beziehung zu USA möglich vom 19.03.2021:

Gesicht verloren

Zu den Qualitäten eines Politikers im allgemeinen zählt die Fähigkeit, zu rechter Zeit am rechten Ort eine Meinung zu vertreten. Egal, ob diese seinen wirklichen Auffassungen entspricht oder zu gleicher Zeit am gegebenen Ort mit gebotenem Schweigen übergeht. Das gilt um so mehr für die Repräsentanten der Spitzenpolitik eines Landes, im besonderen aber für Präsidenten oder sonstige Staatsführer, denen die Diplomatie und ihre besondere Sprache zur Wahrung oder Durchsetzung nationaler (und ebenso internationaler) Interessen zu Gebote steht. Die zunehmende Brutalisierung in den von kapitalistischer Konkurrenz und Kapitaldominanz geprägten Gesellschaften der westlich-demokratischen Staatenwelt widerspiegelt sich im Sprachgebrauch. Erkennbar in der Alltagssprache und ihren Begriffsbildungen sowie in den Massenmedien, deren mitmenschliche Regeln und kulturelle Ansprüche gegenüber aggressivem Marktschreiertum und verheiligter Profitlogik immer mehr an Rückhalt verlieren.
Auf der Ebene der internationalen Beziehungen hätte ein ähnlicher Niedergang der Sprache der Diplomatie letztlich nicht nur destabilisierende, ja vermutlich katastrophale Konsequenzen für die existentielle Sicherheit von Staaten und Völkern. Bei allen unbestreitbaren geopolitischen Interessengegensätzen zwischen den Ambitionen einzelner Staaten oder Mächtegruppierungen wäre der Verlust der diplomatischen Kontakte und Kontaktmöglichkeiten faktisch eine Kriegsdrohung. Die Sprache der Diplomatie erlaubt, Interessen zu erläutern und auszugleichen – und vor allem eine Gesichtswahrung der Akteure in gefährlichen Sackgassensituationen. Man denke an die Kuba-Krise 1962, als die Welt nur knapp an einem Atomkrieg vorbeischrammte. Selbst in den angespanntesten Phasen der Konfrontation des Kalten Krieges zwischen NATO und Warschauer Vertragsstaaten, ja auch bei der Verteufelung der UdSSR als des »Reiches des Bösen« verstieg sich weder Ronald Reagan noch ein anderer amerikanischer Präsident zu einer persönlichen Beleidigung eines sowjetischen oder russischen Staatschefs. Dies blieb bisher nur Joseph Biden vor kurzem in einem ABC-Fernsehinterview vorbehalten, in dem er auf die suggestive Frage, ob er Putin für einen Mörder halte, antwortete: »Hmm – ja, das tue ich.« Unfassbar! Das kann auch nicht mit der freundlich belächelten Demenz eines »Sleepy Joe« (so Trump im letzten Präsidentschaftswahlkampf) verharmlost werden. Angesichts der Tatsache, dass den beiden in Konflikt geratenen Präsidenten die jeweils größten Kernwaffenpotentiale dieser Welt zu Gebote stehen, wird die Forderung nach Abrüstung durch die Rolle der diplomatischen Kultur als Mittel zur Vermeidung unnötiger Konflikte deutlich unterstrichen. Diese höchste präsidiale Kontaktebene scheint nunmehr für lange Zeiten verbaut.
Prof. Dr. Gregor Putensen, Greifswald
Veröffentlicht in der jungen Welt am 20.03.2021.
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