Aus: Ausgabe vom 02.02.2010, Seite 3 / Schwerpunkt
»Strategiewechsel« ist ein Rohrkrepierer
Peter Strutynski und Lühr Henken vom Bundesausschuß Friedensratschlag haben nach der Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel in der vergangenen Woche ein Sieben-Punkte-Papier wider die Kriegseskalation in Afghanistan ausgearbeitet, das jW leicht gekürzt dokumentiert.
Die Bundesregierung hat ihre Marschrichtung festgelegt: Es wird sowohl die bereits vorher angekündigte Truppenerhöhung (von 4500 auf 5350) als auch eine Aufstockung der Mittel für den zivilen Aufbau (von 250 auf 430 Millionen Euro) geben. Hinzu kommt die Erhöhung der Zahl der Polizeiausbilder (von 123 auf 200).
Hinter diesen Zahlen verbirgt sich jede Menge Sprengstoff:
1) Die Bundesregierung weigert sich weiterhin, die Realitäten des Afghanistan-Krieges zur Kenntnis zu nehmen. Anstatt die Lage am Hindukusch entwicklungspolitisch zu verklären (es gab »manche Fortschritte«), hätte es einer schonungslosen Bilanz des über acht Jahre dauernden Krieges bedurft. Diese Bilanz liest sich anders als Merkels Schönfärberei:
– Keine signifikante Veränderung der Lage der Frauen;
– kein Fortschritt bei der Alphabetisierung (im Gegenteil: 36,5 Prozent der afghanischen Bevölkerung sind heute Analphabeten, 2001 waren es 34 Prozent);
– zügige Rückkehr der Taliban-Herrschaft in der Fläche (laut Londoner Forschungsinstitut ICOS werden 2009 80 Prozent des Landes von Taliban kontrolliert, 2007 waren es erst 54 Prozent);
– Armut und Hunger haben laut UN-Berichten erschreckende Ausmaße angenommen (Anteil der Unterernährten in der Bevölkerung von 30 auf 39 Prozent gewachsen, Anteil der Armen von 33 auf 42 Prozent);
– Anstieg der Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen von 26 auf 47 Prozent.
Das einzige, was wirklich blüht in Afghanistan, sind die Mohnfelder und die Korruption. Bischöfin Margot Käßmann hatte recht, als sie in ihrer Neujahrsansprache sagte: »Nichts ist gut in Afghanistan.«
2) Die Kanzlerin begründet die Erhöhung des Bundeswehrkontingents mit der Notwendigkeit, den Schutz der Bevölkerung im Norden des Landes »gemeinsam mit afghanischen Kameraden« zu verstärken. Dahinter verbirgt sich die Übernahme der US-amerikanischen und britischen Praxis, afghanische Soldaten zu Ausbildungszwecken in den Kampf zu schicken – unter Begleitung von NATO-»Ausbildern«. Ergebnis wird sein, daß der Krieg auch in den Nordprovinzen weiter eskaliert, die Bundeswehr häufiger in Gefechte verwickelt wird.
3) Bundeskanzlerin Merkel verschweigt auch den Beschluß des NATO-Oberkommandierenden McChrystal, wonach 5000 US-Soldaten zusammen mit 48 Hubschraubern zur Verstärkung in die Nordregion verlegt werden und »unter das Kommando des von Deutschland gestellten Regionalkommandeurs in Masar-i-Scharif gestellt werden« sollen. Im Klartext heißt das nämlich, daß mit einer Ausweitung der Kampftätigkeiten in den ehemals »ruhigen« Gebieten zu rechnen ist. Das verstärkte Bundeswehrkontingent dient also nicht dem besseren Schutz der Zivilbevölkerung, sondern dem US-amerikanischen Modell der Aufstandsbekämpfung (counter-insurgency), das schon bisher ebenso verlustreich (v.a. für die Zivilbevölkerung) wie erfolglos geblieben ist.
4) Die Aufstockung der Zahl der Polizeiausbilder (von 123 auf 200 Polizisten) wäre nur dann vernünftig, wenn sichergestellt wird, daß die ausgebildeten afghanischen Polizisten ihren Dienst auch nach Recht und Gesetz ausüben würden. Dies war bisher nur in Ausnahmefällen so. Ein Großteil der afghanischen Polizisten läuft auf die Seite der Taliban über oder läßt sich von lokalen Warlords für ihre Zwecke und zur persönlichen Bereicherung einkaufen (z.B. für die »Straßenräuber-Abzockerei« an Checkpoints, wie der Bund Deutscher Kriminalbeamter in seiner jüngsten Stellungnahme formulierte). Davon abgesehen ließe sich die Ausbildung afghanischer Polizisten viel kostengünstiger in der Bundesrepublik durchführen.
5) Frau Merkel hat nichts über die Kosten des Krieges gesagt. Während sich die Ausgaben in den zurückliegenden acht Jahren auf insgesamt gut vier Milliarden Euro belaufen (pro Jahr im Durchschnitt also 500 Millionen Euro), kostet der Einsatz in diesem Jahr bereits 830 Millionen Euro, mit dem erweiterten Bundeswehrumfang wird die Milliardengrenze pro Jahr überschritten.
6) Die Regierungserklärung ist insgesamt der hilflose Versuch, der Öffentlichkeit Fortschritte und Zukunftsverheißungen vorzugaukeln. Dazu gehört die »Abzugsperspektive«, von der immer öfter geredet wird. Die Aussagen dazu waren aber mehr als vage: In den nächsten Jahren wolle man »Verhältnisse« schaffen, die es den Afghanen »ermöglichen« sollen, für ihre Sicherheit selbst zu sorgen. Wie kann man darauf hoffen, daß jetzt geschehen soll, was in mehr als acht Jahren Krieg nicht erreicht wurde!? Mit jeder Truppenerhöhung bisher haben die Zahl der sich auch die Widerstandsaktionen erhöht, ist die Sicherheitslage im Land weiter destabilisiert worden.
7) Trotz geheuchelter »Abzugsperspektive« und chronischer Schönfärberei läßt sich die Bevölkerung kein X für ein U vormachen: Nach neuesten Erhebungen sind knapp 80 Prozent der Bevölkerung in Deutschland gegen die Erhöhung der Truppenzahl; und vor zwei Wochen hatten sich in einer ARD-Umfrage 71 Prozent für einen schnellstmöglichen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan ausgesprochen.
Fazit und Ausblick: Der von der Bundesregierung mit Blick auf die Londoner Konferenz versprochene »Strategiewechsel« ist ein Rohrkrepierer. In Afghanistan wird weiter Krieg geführt und gestorben; in Zukunft sogar noch mehr. Von zivilem Aufbau kann im Schatten des Krieges keine Rede sein. Statt einer »Afghanisierung« des Konflikts erleben wir eher eine »Amerikanisierung« der Kriegsführung – auch im »deutschen« Norden. Dazu sagen die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung und die Friedensbewegung eindeutig nein. Die Änderung des Mandats für den Bundeswehreinsatz, die wohl Ende Februar im Bundestag beschlossen werden soll, darf nicht durchkommen! Dazu wird die Friedensbewegung zusammen mit vielen anderen sozialen Bewegungen am 20. Februar in Berlin ihre Präsenz zeigen und fordern: »Kein Soldat mehr! Truppen raus aus Afghanistan!«
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