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Aus: Ausgabe vom 09.08.2010, Seite 12 / Feuilleton

Tod eines Historikers

Im Alter von 62 Jahren ist am Freitag in Manhattan der Historiker Tony Judt gestorben, wie die New York University mitteilte, an der Judt viele Jahre lehrte. Außerhalb ihrer Mauern sei er verschrien als vereinsamter, von Selbsthaß erfüllter jüdischer Kommunist, erklärte er im Januar dem Londoner Guardian. Innerhalb der Universität gelte er als typischer Vertreter der altmodischen weißen männlichen liberalen Elite. Ihm gefalle das. Er fühle sich in diesem Grenzbereich gut aufgehoben.

Judts wichtigstes Buch ist 2005 erschienen: »Postwar. A History of Europe Since 1945«, eine monumentale Abhandlung über das Nachkriegseuropa, in welcher der Osten des Kontinents die ihm gebührende Beachtung erfährt. Zwei Jahre vor dem Erscheinen hatte Judt für Aufsehen gesorgt, als er in der Zeitschrift The New York Review of Books die für ihn einzig denkbare Lösung des Nahostkonflikts vorstellte: ein säkularer, binationaler Staat, in dem Juden und Araber gleiche Rechte haben. Judt wurde im Londoner Eastend geboren und gehörte 1967 zu den israelischen Truppen, die im Sechs-Tage-Krieg die Golanhöhen eroberten. Hier fiel er vom Glauben an den zionistischen Staat ab, kehrte nach Cambridge zurück und beschäftigte sich lange mit der Geschichte französischer Intellektueller.

Von Kollegen wurde der Verstorbene dafür geschätzt, daß er die großen Zusammenhänge (»the big picture«) in aktuelle Debatten einbrachte. Ein Historiker muß nach Judts Verständnis auch Anthropologe, Philosoph und Moralist sein. Vor allem aber muß er die Ökonomie der Periode verstanden haben, mit der er sich befaßt.

Seit etwa zwei Jahren litt Judt am Lou-Gehrig-Syndrom, das zu Bewegungsunfähigkeit und, damit einhergehend, Muskelschwund führt. Er hat weitergearbeitet und auch über das Leben mit der Krankheit geschrieben. (jW)

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