Aus: Ausgabe vom 29.03.2011, Seite 12 / Feuilleton
Alle Türken beleidigt
Von Nick Brauns
Der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk ist
von einem Gericht dazu verurteilt worden, 6000 türkische Lira
(3000 Euro) an fünf Kläger zu zahlen, die sich durch
seine Äußerungen über die Ermordung von Kurden und
Armeniern persönlich beleidigt fühlen. In einem Interview
mit dem Schweizer Tagesanzeiger hatte Pamuk im Jahr 2005
erklärt: »Man hat hier 30000 Kurden umgebracht. Und eine
Million Armenier.« Da der Genozid an den Armeniern im Ersten
Weltkrieg nach wie vor ein Tabuthema in der Türkei ist, wurde
ein Strafverfahren gegen Pamuk wegen »Beleidigung des
Türkentums« eröffnet, das jedoch nach
internationalen Protesten Anfang 2006 eingestellt wurde. Der
Vorsitzende einer nationalistischen Anwaltsvereinigung, Kemal
Kerincsiz, sowie vier Angehörige von im Kampf gegen die
kurdische PKK-Guerilla getöteten Soldaten hatten Pamuk, der
»alle Türken beleidigt« habe, angezeigt. Das
Gericht in Istanbul-Sisli hatte sich erst geweigert, die Klage zu
verhandeln, da die »Kläger nur einfache Angehörige
der türkischen Nation« seien. Auch nachdem das Oberste
Appellationsgericht den Fall zurück an das Gericht verwies,
verweigerte dies eine Verhandlung. 2009 schließlich
erklärte das Generalkomitee des Obersten Appellationsgerichts,
daß Pamuk sehr wohl individuelle Rechte verletzt habe. Das
Gericht müsse »die Ehre und das Selbstwertgefühl
von Menschen ebenso wie ihre Gefühle als Angehörige einer
Nation« berücksichtigen. Ende vergangener Woche
verurteilte das Gericht in Sisli Pamuk nun zur
Kompensationszahlung. Der Schriftsteller hat jetzt zwei Wochen
Zeit, gegen das Urteil juristisch vorzugehen. Sein Hauptkläger
Kerincsiz sitzt mittlerweile wegen Verwicklungen in angebliche
Militärputschpläne selbst in Untersuchungshaft.
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