200 Menschen in Algier niedergemetzelt
In Algerien ist in der Nacht zum Dienstag eines der blutigsten Massaker seit Beginn des bewaffneten Kampfes zwischen islamischen Untergrundkämpfern und der Armee vor über fünfeinhalb Jahren verübt worden. 180 bis 200 Zivilisten, überwiegend Frauen und Kinder, wurden nach Angaben von Überlebenden in Bentalha, einem Vorort der Hauptstadt Algier, von einem Angreiferkommando brutal niedergemetzelt. Die Behörden sprachen von 85 Toten und 67 Verletzten, darunter 31 Schwerverletzten, und machten islamische Fundamentalisten für den »Akt der Barbarei« verantwortlich. Die verbotene »Islamische Heilsfront« (FIS) verurteilte den Massenmord »entschieden und entschlossen«, wie ihr Sprecher Abdelkrim Ould Adda in Paris erklärte.
Ein Bewohner von Bentalha sagte: »Das war eine unglaubliche Schlächterei.« Die Täter schnitten den Opfern die Kehlen durch oder steckten Häuser in Brand, in denen die Menschen qualvoll verbrannten. Ein offensichtlich unter Schock stehender Mann sagte, er habe fliehen können, aber die Schreie der Opfer und Explosionen gehört.
Unbestätigten Berichten zufolge kam es im Laufe der Nacht auch zu Auseinandersetzungen des Mordkommandos mit Soldaten und Polizisten. Die Armee riegelte den Tatort später ab und gestattete nur Krankenwagen und offiziellen Fahrzeugen die Durchfahrt. Ein Augenzeuge berichtete, ein Straßenzug von Bentalha am südlichen Stadtrand von Algier sei »vollkommen ausradiert« worden. Andere Zeugen sagten, die Angreifer seien in zwei Gruppen zu je 40 Mann gekommen. Nach Angaben von Journalisten herrschte in der Umgebung große Panik. Hunderte Menschen versammelten sich am Rande des abgesperrten Gebiets, um zu erfahren, ob ihre Angehörigen unter den Opfern sind. Die Leichen wurden in eine Schule gebracht. Drei Bagger fuhren zum Friedhof des benachbarten Vorortes Baraki, offenbar um dort Gräber auszuheben.
Der genaue Ablauf des Massakers war zunächst nur schwer zu rekonstruieren. Augenzeugen zufolge begannen einige der Gewalttäter am Montag abend damit, die Umgebung zu verminen und Häuser zu plündern. In der Nacht sei dann der Überfall erfolgt. Die Gegend um Bentalha zwischen Algier und Sidi Moussa gilt als äußerst gefährlich. Die Straße von Algier nach Sidi Moussa ist seit Monaten für den zivilen Verkehr geschlossen, weil die Behörden Überfälle befürchten.
In zahlreiche Orten und in Stadtteilen Algiers bildeten Bewohner inzwischen Selbstverteidigungskommandos, weil die Sicherheitskräfte in den vergangenen Monaten oftmals erst lange nach Ende der Massaker eingriffen, obwohl teilweise Kasernen in der Nähe waren. Offenbar kamen die Sicherheitskräfte auch bei diesem Massaker ihrer Pflicht zum Schutz der Bevölkerung nicht nach. Nach eigenen Aussagen hatten Einwohner von Tipasa rund 100 Kilometer westlich von Algier einen Angriff vor kurzem bewaffnet abgewehrt. Auch die Regierung hat nach eigenen Angaben rund vier Wochen vor den geplanten Kommunalwahlen am 23. Oktober die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt.
In den vergangenen Wochen seien über 500 Zivilisten in Algerien getötet worden, erklärte amnesty international in London. Tausenden Flüchtlingen werde aber in den westlichen Ländern keine Zuflucht gewährt, weil die Menschen nicht beweisen könnten, daß ihr Leben zu Hause bedroht sei, kritisierte die Menschenrechtsorganisation.
In der BRD haben bislang nur Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt beschlossen, vorerst keine Algerier abzuschieben. Das Bundesinnenministerium und andere Länderminister sehen derzeit »keine generelle Gefahr« für Leib und Leben von in Deutschland lebenden Algeriern.
(jW/AP/AFP)
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