Aus: Ausgabe vom 14.12.2011, Seite 3 / Schwerpunkt
Syrischer Knoten
Der Publizist Jürgen Todenhöfer, bis 1990 Bundestagsabgeordneter der CDU, danach bis 2008 Burda-Manager, hat in diesem Jahr zweimal Syrien bereist. In der FAZ vom 12. Dezember erschien sein Bericht »aus einem gespaltenen Land«:
(…) In Syrien findet nicht einfach nur ein Volksaufstand gegen einen verhaßten Herrscher statt. Der Frontverlauf ist viel komplizierter. Zahllose junge Menschen demonstrieren im Landesinneren seit Monaten friedlich und unter Lebensgefahr gegen die Diktatur. Gleichzeitig demonstrieren in den Ballungszentren Damaskus und Aleppo Hunderttausende für Assad und Demokratie. Viele bestellt, viele freiwillig. In Daraa, Homs, Hama, Idlib haben sich Guerillakommandos gebildet, die mit schweren Waffen gegen die Sicherheitskräfte vorgehen. Nach Aussagen der Regierung töten sie zunehmend auch Zivilisten, meist Alawiten. Diese Aussagen werden von innersyrischen Oppositionspolitikern, die selbst Jahre in den Kerkern des Vaters von Assad, Hafiz, verbracht haben, mit konkreten Beispielen bestätigt. Dichtung oder Wahrheit? Gegen diese Guerillakommandos, deren Finanzquellen dunkel sind, geht die syrische Armee gnadenlos und blutig vor.
(…) Alles wird noch komplizierter dadurch, daß die innersyrische Opposition und die Exilopposition in zentralen Fragen unterschiedliche Standpunkte vertreten. Die innersyrische Opposition – die seit Beginn der Revolution relativ offen auftreten kann – setzt auf einen friedlichen Wandel, während Teile der vom Westen subventionierten Exilopposition auf eine militärische Intervention der NATO – ähnlich der in Libyen – hinarbeiten. (…)
Was ich täglich von westlichen Politikern zu Syrien lese, wird den Realitäten, die ich vier Wochen lang an Ort und Stelle erlebt habe, nicht gerecht. Wenn ich abends die internationalen Onlinemedien überflog, war es, als läse ich Erzählungen von einem fernen Stern. Jeder hat ein Recht auf eigene Meinung, aber keiner auf eigene Fakten. Nach meinen persönlichen Erfahrungen in Damaskus, Daraa, Homs und Hama sind mindestens die Hälfte der Meldungen über Syrien schlichtweg falsch – fast wie vor dem Irak-Krieg. (…)
Der syrische Knoten ist noch lösbar. Paradoxerweise ist es nach wie vor Baschar Al-Assad, der am ehesten einen friedlichen Übergang zur Demokratie erreichen könnte. Weil er die Macht hat und weil er als Person bei einem Großteil der Bevölkerung noch immer Ansehen genießt. (…) Assad muß sich relativ kurzfristig freien Präsidentschaftswahlen stellen. Mit dem Risiko, sein Amt zu verlieren. Aber auch mit der Chance, sich demokratisch zu legitimieren. (…)
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