Aus: Ausgabe vom 10.09.2012, Seite 3 / Schwerpunkt
»Mut und intellektuelle Redlichkeit«
junge Welt dokumentiert Auszüge einer Erklärung der »Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung« (AkG) zur Verleihung des Adorno-Preises der Stadt Frankfurt am 11. September 2012 an Judith Butler. Die AkG existiert seit Juni 2004 als Zusammenschluß von Sozialwissenschaftlern im deutschsprachigen Raum.
Die Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung hat sich gegründet, weil sich die Erarbeitung und Fortsetzung kritischen Wissens im Anschluß an materialistische Traditionen der kritischen Gesellschaftstheorie in den vergangenen Jahren sehr erschwert hat. Eine der Theoretikerinnen, der sich viele in der AkG in ihrer wissenschaftlichen und politischen Arbeit verpflichtet sehen, ist Judith Butler. Viele von uns haben sich gefreut darüber, daß sie die diesjährige Preisträgerin des Adorno-Preises sein wird. Denn Judith Butler hat nicht nur international maßgeblich zur Fortentwicklung der kritischen Theoriebildung beigetragen, sie hat auch viele entsprechende Initiativen und Personen in diesem Kontext solidarisch unterstützt.
Die öffentlich geäußerte Kritik an dieser Preisverleihung halten wir für legitim und für einen normalen Vorgang. Allerdings irritieren uns die Art und Weise der Kritik, die Judith Butlers persönliche Integrität in Zweifel ziehen, ihr »jüdischen Selbsthaß«, Antisemitismus oder Haß auf Israel vorwerfen und sie damit auf eine Stufe mit Rassisten stellen. Theodor W. Adorno, Namensgeber des zu verleihenden Preises, war einer der schärfsten Kritiker individueller Herabsetzung und Entwürdigung und hat wie kein anderer den Zusammenhang von kapitalistischer Vergesellschaftung, Antisemitismus und rassistischem Massenmord herausgearbeitet. In ihren Analysen gibt Judith Butler diesem Impuls, den unversöhnten gesellschaftlichen Zustand zu begreifen und auf Veränderung hinzuwirken, Kontinuität. (…)
Wir haben Judith Butler als eine Theoretikerin kennengelernt, die sich all diesen Mechanismen aufs Subtilste entgegenstellt. Mit viel Mut und intellektueller Redlichkeit hat sie kulturelle und politische Selbstverständlichkeiten unserer Gesellschaften in Frage gestellt und tritt für die Rechte von Schwulen, Lesben, Menschen mit anderen sexuellen Orientierungen oder rassistisch verfolgten Gruppen ein. Für jede Auseinandersetzung mit sexistischen oder rassistischen Formen von Herrschaft ist ihr Werk unerläßlich. Wir glauben, daß gerade die Unabhängigkeit und parteiische Seite ihres Denkens provoziert und die Kritik an ihr oftmals selbst nicht ganz frei von Voreingenommenheit, Sexismus und Homophobie ist. (…)
Es ist gerade angesichts der verhängnisvollen Rolle, die Wissenschaftlerinnen und wissenschaftliche Einrichtungen in antiaufklärerischen und antiemanzipatorischen Entwicklungen immer wieder gespielt haben, ein Moment des Selbstverständnisses der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung, für die Freiheit der Kritik an der Orientierung und Politik von Wissenschaft und ihren Einrichtungen einzutreten. In diesem Sinn begrüßen wir es, daß Judith Butler am 11. September den Adorno-Preis 2012 erhalten soll und sehen darin eine Stärkung der kritischen Impulse in unseren Gesellschaften.
www.akg-online.org
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vom 10.09.2012