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Aus: Ausgabe vom 20.04.2013, Seite 16 / Aktion

Rechtsfreier Raum

Wie die junge Welt hat auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen klaren Standpunkt. Unterschiede gibt es gerade deshalb
Von Dietmar Koschmieder
Gewaltbereite Regierungsmilizen gegen PSA-Peugeot-Citroën-A
Gewaltbereite Regierungsmilizen gegen PSA-Peugeot-Citroën-Arbeiter vor dem Hauptquartier der Firma in Paris
Wer die junge Welt neu entdeckt, wundert sich gelegentlich, warum diese Zeitung beim Einstimmen auf neue Kriegs­einsätze, beim Erklären der Notwendigkeit weiterer sozialer Einschnitte oder beim DDR-Bashing nicht mitspielt – wie das ansonsten so ziemlich jede andere Tageszeitung in diesem Lande tut. So ist es für manche überraschend, in der jungen Welt zu lesen, die DDR habe das bessere Bildungssystem gehabt und dort sei Gesundheit keine Ware gewesen, auch weil Ärzte in erster Linie Ärzte und nicht Kaufmänner waren. Das löst nicht selten Widerspruch aus: Die anderen Medien haben anderes berichtet, wird argumentiert. Und die DDR sei keine Demokratie gewesen. Wer nun zu bedenken gibt, daß es auch in der DDR ein Wahlsystem und Parteien gegeben habe, stößt auf Erstaunen, gelegentlich auf Protest, auch in der jW-Leserschaft. Einig ist man sich dann allerdings rasch bei der Feststellung, daß in der BRD bürgerliche Demokratie spätestens am Betriebstor endet. Das steht zwar so auch nicht in anderen Zeitungen, entspricht aber den konkreten Lebenserfahrungen der Leserinnen und Leser.

Am vergangenen Mittwoch (17.4.13) überschrieb nun die bürgerliche Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Beitrag im Wirtschaftsteil mit den Worten: »Die Autofabrik als rechtsfreier Raum«. Immerhin, denkt der kritische Leser, widmet sich nun selbst die FAZ einem Thema, das bisher nur in linken Medien Platz gefunden hat. Demokratie, also Volksherrschaft, im kapitalistischen Betrieb? Wie soll das auch gehen. Spätestens dort wird nicht mehr per Stimmzettel der Beschäftigten, sondern nach den Zwängen der Profit­maximierung durch die Besitzenden entschieden. Und der Verdacht, daß jene, die über die Betriebe herrschen, auch ansonsten in Gesellschaft und Medien sagen, wo es langzugehen hat, egal wer gerade gewählt wurde, verdichtet sich bei immer mehr kritischen Leserinnen und Lesern. Allerdings: Wenn selbst in der FAZ die Fabrik als rechtsfreier Raum entdeckt wird, ist dann dieser Verdacht nicht geradezu widerlegt?

Aufklärend wirkt das Lesen des Beitrags über die Lage des PSA-Peugeot-Citroën-Werkes in Aulnay-sous-Bois (PSA) nahe Paris. Die FAZ schreibt: »Dies ist eine Geschichte aus einer Welt des Klassenkampfes wie vor hundert Jahren. Hier genießen jene Respekt, die ihren Arbeitsplatz verteidigen; wer Stellen streicht, ist dagegen der Bösewicht. PSA wird sein Werk in Aulnay aus Kostengründen im kommenden Jahr schließen. Die Gewerkschaften haben dies inzwischen mehrheitlich akzeptiert. Nur ein kleiner, aber hartnäckiger Kern von gewaltbereiten Streikenden hat den 176 Hektar großen Standort seit drei Monaten fast komplett stillgelegt. Der Autohersteller ist nicht mehr Herr in der eigenen Fabrik«, heißt es mitfühlend. Empört wird darüber berichtet, daß Streikbrecher behindert werden, daß Knallkörper und Flaschen mit Urin geflogen seien und daß es in der Bevölkerung eine hohe Toleranz gegenüber den Streikenden gebe. Das schlimmstehebt man sich allerdings für den letzten Satz des Beitrages auf: »Am vergangenen Freitag wurden genau fünf Autos hergestellt – möglich wären 700 am Tag.« So also sieht ein rechtsfreier Raum aus: Wenn die Besitzenden daran gehindert werden, das Maximum an Profit aus Werksanlagen und Beschäftigten herauszuholen. Oder andersherum: Rechtsfrei ist der Raum dann, wenn das Volk die Macht hat. Und nicht mehr der Patron. Wessen Interessen vertritt eine Zeitung, die solche Positionen bezieht?

Und wie hält sie es mit der Demokratie außerhalb der Betriebe? In der gleichen Ausgabe der FAZ wird der Ausgang der Wahlen in Venezuela kommentiert, bei denen bekanntlich am vergangenen Sonntag der linke Chavist Maduro mit knapp 300000 Stimmen Vorsprung die Wahl gegen den Kandidaten der vereinten bürgerlichen Opposition Capriles gewonnen hat. Der Kommentator mit dem Kürzel D.D. befindet, daß das Geschrei um eine Neuauszählung der Wählerstimmen geradezu beschönigend sei, weil der Wahlbetrug schon weit vorher stattgefunden habe: »Denn wie schon im vergangenen Herbst im Wahlkampf gegen den angeblich kerngesunden Chávez, so sah sich der Oppositionskandidat Capriles auch jetzt einer geballten Übermacht aus gleichgeschalteten Medien, mit Öl-Dollars geschmierten Staatskonzernen und gewaltbereiten Regierungsmilizen gegenüber.« Die »gleichgeschalteten Medien«, womit offensichtlich die Staatsmedien gemeint sind, berichteten im Herbst umfangreich über die Krebsoperationen und den kritischen Gesundheitszustand des damaligen Regierungschefs. Aber was heißt schon gleichgeschaltet? 80 Prozent der Medien Venezuelas gehören nicht dem Staat, sondern sind in Privatbesitz. Und von diesen sind 90 Prozent eindeutig, offen und aggressiv im Wahlkampf gegen die Regierung aufgetreten, wie den Wahlbeobachtern in Caracas mitgeteilt wurde. Unzufrieden mit dem Wahlausgang waren nicht die »gewaltbereiten Regierungsmilizen«: Die von D.D. bedauerten Oppositionskräfte haben in den Tagen nach der Wahl sieben Chavez-Anhänger und einen kubanischen Arzt totschlagen lassen, weil sie auch nach der Wahl nicht den vollen Zugriff auf die Öl-Dollars haben. Aber wen interessieren schon solche Details: In der FAZ gilt eine Wahl offensichtlich nur dann als demokratisch, wenn die Mehrheit der Wähler das wählt, was D.D. für richtig hält. Wessen Interessen aber vertritt nun dieser Herr? Und seine Zeitung?

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