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Aus: Ausgabe vom 22.06.2016, Seite 3 / Schwerpunkt

Hintergrund: Geschichtsklitterung

Der Autor Nikolai Klimeniouk nahm im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (19.6.) eine Umdeutung des Überfalls auf die Sowjetunion vor, in der der deutsche Vernichtungskrieg relativiert wird. Er warnt, die Aufarbeitung zu »missbrauchen«, um »alte sowjetische Untaten zu bagatellisieren und neue russische Verbrechen zu rechtfertigen«:

»Vor 75 Jahren, am 22. Juni 1941, griff Deutschland die Sowjetunion an. Damit begann der Krieg, den die UdSSR den »Großen Vaterländischen Krieg« nannte und den Russland als der Nachfolgestaat heute symbolisch weiterführt, aber nicht nur symbolisch. Diesem Missbrauch der gemeinsamen traumatischen Geschichte sollte man in Deutschland nicht wort- und tatenlos zuschauen. (…)

Eigentlich begann dieser Krieg für die Sowjetunion bereits am 17. September 1939. (…) In der Zeit danach annektierte die Sowjetunion Teile von Polen, Finnland und Rumänien, dazu Litauen, Lettland und Estland. Sogar der erste Bruch des Hitler-Stalin-Paktes fand somit lange vor dem 22. Juni 1941 statt, denn Litauen wurde der deutschen Interessensphäre zugerechnet. (…) Die finnische Armee kämpfte ausschließlich auf eigenem Boden und ohne Einsatz von Massenvernichtungswaffen, dennoch standen die immensen sowjetischen Verluste – geschätzte 126.000 Mann – in keinem Verhältnis zur militärischen Stärke und zu den fünfmal geringeren Verlusten des Gegners. Ursachen dafür waren die Verachtung der sowjetischen Führung für das menschliche Leben und ihre totale Inkompetenz. Dieses Wissen ist wichtig, um den hohen Blutzoll der UdSSR im späteren deutsch-sowjetischen Krieg zu verstehen – er geht ebenso auf die Sowjetunion zurück wie auf den deutschen Aggressor. (…)

Der sowjetische Terror gegen die Zivilbevölkerung und die mörderische Kriegsführung mit irrsinnigen, durch nichts gerechtfertigten Todesopfern hörten nach dem deutschen Überfall nicht auf. Der deutsch-sowjetische Krieg lieferte aber viele neue Vorwände für Willkür und weitere Repressalien. Für meine Heimatregion, die Krim, bedeutete dieser Krieg eine Abfolge genozidaler Verbrechen, die beide Kriegsparteien mit ähnlicher Konsequenz verübten. (…) Indessen ging der Krieg mit Nazideutschland weiter. Die UdSSR beging diese und viele andere Verbrechen als Teil der siegreichen Anti-Hitler-Koalition und wurde dafür nie zur Rechenschaft gezogen. (...)

Am 30. Mai dieses Jahres plädierte der Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier beim Deutsch-Russischen Forum für die schrittweise Abschaffung der Sanktionen, welche die EU zur Eindämmung der russischen Aggression gegen die Ukraine verhängte. Seine Rede war ein bedauerliches, doch leider für Deutschland sehr typisches Beispiel fahrlässigen Umgangs mit der deutsch-sowjetischen Vergangenheit.«

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