Net amoi ignoriern!
Von Dietmar KoschmiederWer brauchbare Berichte über Klassenkämpfe in Deutschland, Venezuela oder in der Türkei lesen will, braucht die junge Welt. Denn in den sonstigen Produkten der bundesdeutschen Medienlandschaft wird dieser Teil der Wirklichkeit verschleiert oder verschwiegen. Das gilt aber auch für Informationen über die junge Welt. In der Regel wird in den Redaktionen frei nach dem Grundsatz von Karl Valentin verfahren: »Die ignoriern ma net amoi!«. Und wenn dann doch über die jW geschrieben wird, braucht es negative Aufhänger und saftige Verleumdungen als Garnitur. Das geschieht nicht ohne Grund: Sie soll keinen größeren Leserkreis finden. Auch deshalb müssen sich Verlag, Redaktion sowie Leserinnen und Leser selber intensiv um neue Interessenten kümmern.
Jüngstes Beispiel: Anfang August hat die junge Welt einen Wechsel in ihrer Chefredaktion gemeldet: Arnold Schölzel, seit 2000 im Amt, übergab die Leitung an Stefan Huth, steht aber als Stellvertreter und Autor weiter zur Verfügung. Hintergrund ist kein Dschungelputsch, kein Fraktionskampf, sondern ganz einfach ein Generationswechsel. An dieser Aufgabe sind schon ganz andere Projekte gescheitert. Aber wie etwa bei der Eröffnung des zweiten jW-Druckstandortes im April dieses Jahres oder bei der großen Plakataktion gemeinsam mit der Kuba-Solibewegung zum 90. Geburtstag von Fidel Castro im August: Die liebe Konkurrenz zieht es in der Regel vor, ihre Chronistenpflicht zu vernachlässigen und zu schweigen.
Wenn doch über die junge Welt berichtet wird, geht es meist nicht ohne Lügen, Gift und Galle. Wunderschönes Beispiel dazu liefert der Tagesspiegel auf seiner Medienseite vom 29. August. Dort nimmt Gunnar Decker den Wechsel in der jW-Leitung erneut zum Anlass, auf die Zeitung einzudreschen. Wer wissen will, wie ideologisches Gekeife klingt, wird gleich mit seinem ersten Satz bedient: »Wer wissen will, wie einst DDR-Ideologie klang, der muss die Junge Welt lesen«, eröffnet Decker. Dann folgt die unwahre Behauptung, dass diese Zeitung »hauptsächlich von DKP-nahen Westlinken« geschrieben wird. Als Beleg soll ausgerechnet der renommierte Hamburger Publizist Otto Köhler herhalten: Der habe auf den Themaseiten gegen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen polemisiert und dazu neben ihr Bild eines von Joseph Goebbels gestellt. »Das ist der Stil der Jungen Welt«, urteilt Decker und weiter: »Die Sozialdemokratie ist dabei im Geiste Stalins nur der gemäßigte Flügel des Faschismus«. Im sehr lesenswerten Beitrag Otto Köhlers geht es um die aktuelle Debatte zum Bundeswehr-Weißbuch. Gleich im zweiten Absatz schreibt der Autor, der übrigens 1952 in die SPD eintrat, sie 1962 wieder verließ und seither parteilos ist: »Doktor Ursula von der Leyen hat mit dem Doktor Goebbels so wenig zu tun wie die Bundesrepublik Deutschland mit Hitlers Deutschem Reich« (jW vom 5. August).
Und so geht es weiter, Schlag auf Schlag, wenn Decker die junge Welt und den bisherigen Chefredakteur charakterisiert: »Betonfeste ideologische Basis«, »eine Zeitung im Schützengraben des Klassenkampfes«, »vom marxistischer Fetisch der Geschichtsgesetze ist es nicht weit zur Verschwörungstheorie«, »Widerspruch existiert in diesem Milieu der Gleichgesinnten nicht«, »das Prinzip Sekte funktioniert«, »dieser heute fest ins ideologische Korsett geschnürte Mensch« (wobei er natürlich nicht sich, sondern Schölzel meint). Und dann ist der seit August nicht mehr Chefredakteur, sondern Stefan Huth. »Ein Richtungswechsel?« fragt Decker rhetorisch um gleich zu klären: »Nein, denn Schölzel bleibt Mitglied der Chefredaktion.« Ohne Rauswurf und Berufsverbot für Kommunisten ist von Decker keine Gnade zu erwarten. Mehr als die Hälfte seines Artikels präsentiert er dann in anklagendem Ton einige biographische Daten Schölzels, der sich als junger Mensch vom Zwangsdienst bei der Bundeswehr durch Flucht in die DDR entzog, dort an der Humboldt-Universität Philosophie studierte, über Revisionismus promovierte und zum Schutz der DDR mit dem Amt für Staatssicherheit zusammenarbeitete. Neben Schölzels konsequentem Klassenstandpunkt ist es vor allem letzteres, was Decker Schaum vor den Mund treibt. Schölzel habe, empört sich Decker, ein Interview abgelehnt, weil er »mit solch bürgerlichen Presseerzeugnissen wie dem Tagesspiegel« keinen Kontakt wünsche. Auch das ist unwahr: Schölzel wünscht ausdrücklich keinen Kontakt zu Decker. Die Gründe dürften diesem bekannt sein.
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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