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Aus: Ausgabe vom 15.10.2016, Seite 10 / Feuilleton
Kapitalismus macht krank

Rasenfetischismus

Es ist zum Verrücktwerden (Teil 2)
Von Hagen Bonn

Eng dem Kleingärtner verwandt ist der Rasenfetischist. Und mit »eng« meinen wir jenes Auf-die-Pelle-Rücken, das das Zwanghafte in sich trägt. Der Rasenfetischist wässert und mäht, er trimmt und schneidet mit der Schere nach. Er düngt und prüft den »Aufwuchs« seiner Monokultur mit dem Zollstock. Er ist Terminator der Termiten, des Maulwurfs und vor allem der allverhassten Bodenflechte. Er rächt sich mit Vertikutierer, Schlauchwagen und computergestützten Steuergeräten zur Bewässerung.

Das klingt so gar nicht nach Kleingärtner? Dann beachte man bitte das »Klein« bei Kleingärtner. Denn kleiner als ein Grashalm geht nicht! Die Welt des Rasenfetischisten ist auf das Nötigste zurechtgestutzt. Er will die totale Kontrolle des Natürlichen, das Flachhalten des Wuchses. Wenn das nicht Dialektik ist?! Am liebsten würde er die Grasfläche ausbetonieren und grün anstreichen, nur dazu fehlt ihm der gesellschaftliche Rückhalt. Und den erreicht er mit seinem Rasen: Damit gilt er als ordentlich, zielstrebig und ausdauernd. Er ist das Gegenteil von Tarzan, er hasst den Dschungel. Alles, was er nicht kurzhalten kann, wird als Bedrohung erlebt.

Jeder, der schon einmal auf einer Blumenwiese stand, wird erkennen, dass ein kurzer Rasen der neoliberale Zerrspiegel des Gartens Eden ist. Nicht auszudenken, dass auf so einer Blumenwiese alles wächst, was der Wind zutreibt, dass dort Bienen summen und Libellen schwirren. Sogar hüpfende Insekten soll es geben, vielleicht sogar Schlangen. Bis zu 5.000 Lebensformen kann so eine Wiese tragen. Anders der Rasenfetischist, der hält genau eine Lebensform in Zaum.

Er will entscheiden, wann die Grünhalmverdichtung Wasser und Licht erhält – und wieviel. Im Unterschied zum Kleingärtner arbeitet er nicht, sondern ist in einer sinnfreien Scheinaktivität verfangen. Befriedigung erhält er über die Kontrollgewissheit: Ich bestimme (Wässern, Düngen), ich schreite ein (Mähen).

Diesen Typen kennt man von der Supermarktkasse her, denn er rechnet den Bon akribisch nach. Er erstellt zu Hause Excel-Übersichten über seinen Benzinverbrauch. Sexualität ist für ihn allenfalls ein Wort. Selbstverständlich hat er trotzdem Kinder, und seine Ehefrau liest wahrscheinlich Schöner Wohnen. Nur eins hat er nicht bedacht: Sein Kind wird wuchern, derweil der Rasen in der Sklaverei stöhnt. Es hat bald Rastazöpfe, hört Heavy Metal, und sein Lieblingsbuch ist Pippi Langstrumpf. Das nennen wir dann wohl Umschlag einer bestimmten Quantität in eine neue Qualität. Auf die Dialektik als Naturgesetz ist immer Verlass.

In der Serie Es ist zum Verrücktwerden:

Es ist zum Verrücktwerden

Alle bisherigen Klassengesellschaften hatten unterschiedliche Antworten auf das Verrückte.

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